Margarete Boie

Boie, Margarete Ida

Hochproduktive Chronistin der Insel Sylt und des "Dammbaus"

Geboren in Berlin am 22. Oktober 1880
Gestorben in Lüneburg am 04. Februar 1946

Kaum eine zweite Autorin ist wohl derartig offensichtlich und hartnäckig von einem Ort inspiriert worden wie die gebürtige Berlinerin Margarete Ida Boie von der Nordseeinsel Sylt. In mindestens 14 ihrer Romane bildet die Insel mit ihren Einwohnern den prägenden Hintergrund für Geschichten, die hauptsächlich in die historische, niemals jedoch romantisierte Vergangenheit Sylts zurückführen.

Mit Norddeutschland freundet sich die Autorin schon früh an: der Offiziersberuf ihres Vaters, des aus Danzig stammenden Bernhard Boie, lässt die siebenköpfige Familie regelmäßig den Wohnort wechseln. Gleich in mehreren Garnisonsstädten im norddeutschen Raum fassen die Boies kurzzeitig Fuß, zuletzt in der alten Hansestadt Thorn, wo der Vater den Gouverneursposten innehat, bevor er überraschend 1896 verstirbt. Margarete besucht zunächst die Handelsschule in Danzig und tritt 1902 eine Stelle im dortigen Westpreußischen Provinzialmuseum an, welches von Hugo Conwentz geleitet wird, der sich stark für den Schutz der Naturdenkmäler einsetzt und hiermit einen großen Einfluss auf Margarete Boie ausübt. Nach einem Besuch der Nordseeinsel Juist veröffentlicht sie 1906 im Selbstverlag ihr erstes Buch, „Juist“, eine Art frühen Reiseführer für naturbewusste Inseltouristen:

Noch ist Juist begehrenswert in seiner herben, unberührten Naturschönheit, aber alle Badeinseln kommen früher oder später in die Gefahr, ihren ursprünglichen Charakter zu verlieren. Erst wenn es dieser Schrift gelänge, unter den Fremden Juists auch Beschützer der unberührten Inselnatur zu erwerben, wäre ihre Bestimmung erfüllt.

Mit ihrer langjährigen Lebensgefährtin, der Malerin Helene Varges, besucht die angehende Schriftstellerin 1908 zum ersten Mal Sylt. Diese und weitere Reisen hinterlassen einen bleibenden Eindruck, und nach einigen weiteren Etappen – u.a. als Redaktionsmitglied des Lüneburger Anzeigers im Ersten Weltkrieg und Mitarbeiterin in der Biologischen Anstalt auf Helgoland – verlegen die beiden Frauen ihren Lebensmittelpunkt endgültig nach Westerland, wo sie von 1919 und 1928 leben und arbeiten. Viele der Sylt-Romane Margarete Boies entstehen hier. Sie tragen Titel wie: Schwestern. Der Jahreslauf einer Insel (1921), Die treue Ose. Sage von der Insel Sylt (1922),  Ferientage auf Sylt (1928) und Die letzten Sylter Riesen (1930) und beleuchten die Insel aus allen möglichen Perspektiven. Gerne greift die Autorin auf Erzählungen aus der alten Gesichte Sylts zurück und verarbeitet sie in dem ihr eigenen sachlichen, kitschfreien, gleichwohl einfühlsamen und an den Erzählstil nordischer Sagen angelehnten Duktus, wie etwa im Roman Der Sylter Hahn (1925), der im 17. Jahrhundert angesiedelt ist:

Nach Sylt kamen dänische Werber; die griffen auf, wen sie nur irgend fangen konnten. Sie prügelten die Leute wie die Hunde, wenn sie nicht Geld nehmen wollten. Die Leute erschraken und nahmen Geld. Mehr als neunzig kamen so im Frühjahr 1677 auf die dänische Flotte, davon starben siebzehn im Laufe des Jahres an den Folgen der schlechten Behandlung, an Hunger und Krankheit. Als im März des folgenden Jahres die Werber wiederkamen, ging das Seevolk durch und war keiner, den die Dänen pressen konnten. Einer der Offiziere kam selbst bis Rantum, und als er Lorens dort unter den andern Kindern sah, rank und schlank, einen halben Kopf größer als seine Altersgenossen, wollte er den Zehnjährigen greifen. Aber der Großvater gab Lorens einen Wink, da entwich der in die Dünen, und dieser Pelz war gar zu groß und die Laus gar zu klein; die kämmte selbst ein enger Kamm nicht heraus. Der dänische Offizier prügelte den alten Mann, daß ihm das Blut aus Nase und Mund stürzte, und blieb drei Tage selbst im Hause. Dann zog er ab. Gegen ein Fuder Mist kann man nicht anstinken, dachte er, als er von Gondel verlangt hatte, daß sie ihm die Kammer scheuern sollte und Gondel dazu einen Eimer voll Jauche genommen hatte. So brachte sie ihn wieder aus dem Hause. Aber die Weiber von Sylt mußten dafür, daß ihre Männer nicht dem dänischen Könige gegen ihren eigenen Herzog in den Krieg folgen wollten, 550 harte Taler zahlen, außer all den andern Steuern, die König und Herzog jeder für sich dort holten.

Als ihr Meisterwerk lässt sich wohl der Roman Dammbau (1930) bezeichnen, in dem sie sich, erfüllt von einem großen Verständnis für die Probleme der Bewohner*Innen, der Gegenwart der Insel zuwendet und anhand des Baus des Hindenburgdamms die pikante Lage Sylts zwischen dänischer und deutscher Einflussnahme schildert. Abermals fällt ihr typischer, lakonisch verknappter Stil auf:

Dem Fremden, der nach Morsum auf Sylt kommt, fällt zunächst die Bedeutungslosigkeit dieses im Wasser schwimmenden Scheibchens Erde gegenüber der unendlichen Weite des Himmels auf. Danach, daß man hier kaum von einer hohen Himmelswölbung, einer Himmelskuppel sprechen kann. Sondern an den meisten Tagen des Jahres liegen schwere Wolken tief und flach auf den dunklen Rohrdächern der niedrigen Insulanerhäuser.

Der Dammbau, der die Abhängigkeit vom dänischen Festland bei der Anreise und Versorgung der Insel beenden soll, wird ausgiebig diskutiert, und der Roman legt zum wiederholten Male Zeugnis von Margarete Boies eigener Skepsis ab:

Wer gut sitzt, lasse das Rücken! Das ist alte Sylter Weisheit. Wir saßen aber immer gut hier in Morsum, ohne den Damm. Wenn man sich verändert – man weiß, was man hat; weiß nicht, was man dafür wiederbekommt. Solange wir für uns bleiben, haben wir vor allem – Ruhe! Wir können uns untereinander einigen. Wir können uns selbst unsere Preise setzen, die wir für Westerland und die anderen Badeorte machen wollen. Wir Sylter selbst sind die einzigen, die den Badegästen frische Produkte liefern können. Ein Hof mit zwei Kühen kann fast nur auf diese Art überhaupt bestehen. Wird der Damm gebaut, kommt die Milch von Klanxbüll morgen schneller nach Westerland, als heute unsere Milch von Morsum, sind die Eier, die auf dem Festland in der Morgenfrühe gelegt wurden, zum Frühstück bei den Badegästen. Das Schlachtvieh kauft Ratzlaff dann auch drüben hinterm Deich. Aber das alles ist das Schlimmste nicht. Es kommen Händler und Hausierer über den Damm. Es kommen allerlei Leute, die mit Geld besser umzugehen verstehen als wir. Ehe man weiß, wie es zugeht, hat man eine Hypothek auf dem Dach. Dann kommen Kleinsiedler hierher, womöglich aus der Stadt. Unnützes Volk, das nichts von der Wirtschaft versteht und nur als Spielkram solchen Hof übernimmt, weil der Mann drüben auf dem Festland ja ohnehin sein Auskommen hat und hier nichts braucht als einen Sommerbetrieb für seine Kinder. Solche Leute ruinieren das Land. Mit denen will ich nichts zu tun haben. Das alles aber kommt uns über den Damm, ob wir danach fragen oder nicht. Und deshalb sage ich noch einmal: wer gut sitzt, lasse das Rücken. Wir hier in Morsum haben immer noch gegessen ohne den Damm. Ich stimme dagegen.

Als Dammbau 1930 im Stuttgarter Verlag Steinkopf erscheint, hat Boie Sylt und ihre Freundin Helene Varges bereits verlassen; ein Herzleiden macht den Umzug vom rauen Inselklima in mildere Gefilde unumgänglich. Rastlos zieht die Autorin fortan kreuz und quer durchs Deutsche Reich: Thüringen, Oldenburg, Erfurt, Berlin, wo sie das Kriegsende erlebt, Danzig, Böhmen, Oberbayern und schließlich wieder Lüneburg. Zahlreiche weitere Romane und Erzählungen entstehen auf dem Weg, auch noch einige über Sylt. Während des Krieges verstummt Margarete Boie allmählich, lediglich drei Bücher erscheinen in dieser kräftezehrenden Zeit. Am 14. Februar 1946 erliegt sie schließlich ihrem Herzleiden. Sie wird auf dem Lüneburger Zentralfriedhof im Grab einer befreundeten Familie beigesetzt. Helene Varges stirbt nur wenige Wochen nach ihr, am 21. März 1946, in Westerland auf Sylt.

Das Sylter Archiv hat Margarete Ida Boie und ihrer Malerfreundin Helene Varges 2009 im Rathaus von Westerland eine umfassende Ausstellung gewidmet.

14.6.2021Jens Raschke