Paul Brodowsky

Brodowsky, Paul

Geboren in Kiel am 3. Januar 1980

Lebt in Berlin

Die Schienenstränge beginnen erst leise, dann immer lauter zu singen, die sich nähernde U-Bahn, der Luftzug vor dem ersten Wagen. Die Station ist leer, frisch renoviert, außer mir steigt niemand ein, ich bin allein in dem Waggon. Die Bahn fährt mit einem leichten Ruck an, durch die Sitzpolster spüre ich die feinen Vibrationen der Räder auf dem Gleis, die Bahn beschleunigt, der Tunnel ist in diesem Stück unbeleuchtet, die Scheiben spiegeln. Ich sitze im ersten Zug, frühmorgens. Die Bahn wird ohne Unterbrechung fahren bis zur nächsten Station, ein hölzernes Knirschen, kaum zu bemerken, eine schlecht verschweißte Schienennaht, ein unvorsichtiges Tier womöglich, der U-Bahn-Fahrer wird aufschrecken aus seinem Sekundenschlaf und die Bremsung einleiten für die kommende Station, der nächste Halt.

Paul Brodowsky: Rachel. In: ders., Die blinde Fotografin. Erzählungen, Frankfurt am Main 2007, S. 113–129, hier: S. 113.

Momente, in denen das Irritierende und Verunsichernde in den Alltag eindringt, vorgetragen in einem stakkatohaften Stil – so lässt sich Paul Brodowskys Erzählungsband Die blinde Fotografin beschreiben, der ihn 2006 bis zum Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt geführt hat. Der 1980 in Kiel geborene Autor schreibt unterdessen in erster Linie Theaterstücke und unterrichtet an der Universität der Künste Berlin.

Brodowsky studierte ab 1999 Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim, wo er 2001 die Literaturzeitschrift Bella triste mitbegründete, deren Mitherausgeber er bis 2004 war. Zudem gehörte er 2005 zur künstlerischen Leitung des Literaturfestivals Prosanova, das zwanzig Veranstaltungen mit über fünfzig Autoren der jüngeren Generation umfasste und seitdem alle drei Jahre abgehalten wird. Seit 2005 ist Brodowsky Diplom-Kulturwissenschaftler.

Von 2007 bis 2010 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft an der Universität Hildesheim. Seit dem Wintersemester 2013/14 ist er Professor für ‚Dramentechnik‘ im Studiengang Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin. Neben der Werkstatt- und Mentoratsarbeit liegt ein Schwerpunkt seiner Lehre im Bereich Interview- und Recherchetechniken.

2002 erschien mit Milch Holz Katzen ein erster Kurzprosaband, 2007 folgte der zweite: Die blinde Fotografin, dessen Erzählungen alle um das Thema der urbanen Beziehung kreisen. „Seine Charaktere sind Getriebene, die desorientiert durch nächtliche Straßen und fremde Wohnungen irren; oft scheinen sie mehr in der U-Bahn als in ihrem Appartement – geschweige denn in sich selbst – zuhause zu sein. Dem entspricht Brodowskys soghafter Stil, der einerseits rhythmisch durchgestaltet ist, andererseits aber auch atemlos und spröde wirkt. Hier geht es nicht nur um enttäuschte Liebe, sondern um eine allgemeine Brüchigkeit der Existenz.“ #1

Brodowskys Texte spielen in Metropolen wie Berlin und New York, doch die Abgründe, die sie erfassen, lassen sich überall wiederfinden.

Zoltan und ich handelt von einem jungen Komponisten, dessen Beziehung zu der Sängerin Julika in einer tiefen Krise steckt. Während eines Auslandsaufenthalts reflektiert der Erzähler, wie sich sein ihm zunehmend fremder werdender Nachbar Zoltan ganz allmählich Julika angenähert hat. Der verschachtelte, virtuos mit mehreren Zeitebenen jonglierende Text zeigt, wie Brodowsky die Vielschichtigkeit der Welt beizukommen sucht und dabei einen perspektivischen Ansatz wählt.

Kai U. Jürgens: Die ertragreiche Einigkeit der Gegensätze. In der LeseLounge: Paul Brodowsky und Thomas Klupp. In: Kieler Nachrichten, 20. Februar 2009.

Nachfolgend hat Brodowsky kontinuierlich Theaterstücke geschrieben: Seit Stadt, Land, Fisch (Werkstattlesung 2004, Uraufführung 2006) folgten u.a. Regen in Neukölln (UA 2011), das bereits vor der Uraufführung den Publikumspreis der Hamburger Autorentheatertage 2008 erhielt; Intensivtäter (UA 2014) und Das innere Jahrhundert (2019). Neben Prosa und Dramatik schreibt er Hörspiele und Essays. In der Spielzeit 2012/13 war er Hausautor am Theater Freiburg. Brodowsky hat mehrere Preise und Stipendien erhalten – unter anderem war er im Winter 2005/06 Writer in Residence am Deutschen Haus der New York University – sowie zahlreiche Beiträge in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. Seit einigen Jahren arbeitet Brodowsky an einem Roman, der auch in Teilen in Schleswig-Holstein spielen wird. Die Arbeit an dem Stoff ist weitgehend abgeschlossen; erscheinen wird der Text im Frühjahr 2023 im Suhrkamp Verlag. Paul Brodowsky lebt und arbeitet in Berlin.

18.3.2021Kai U. Jürgens

ANMERKUNGEN

1 Kai U. Jürgens: Vom Schlafen mit offenen Augen. Aufgeweckt: Paul Brodowsky und Stephan Turowski im Literaturhaus. In: Kieler Nachrichten, 22. März 2007.