Hans Eppendorfer

Eppendorfer, Hans; geboren als Hans-Peter Reichelt.

Skandalumwitterter „Ledermann“ und sensibler Schriftsteller

Geboren in Lütjenburg am 10. Juni 1942
Gestorben in Hamburg am 23. Januar 1999

In einem von ihm 1985 herausgegebenen Buch mit Texten über die Pubertät beschreibt der Schriftsteller Hans Eppendorfer diese Phase als „eine Zeit wie in einem Dampfkessel voller Mißtrauen und Hochgefühl, voller Jubel- und Schweißausbruch. Eine Zeit, in der du dir deine Druckventile selber suchen mußt […]. Das Leben überrollt dich einfach wie auf einer Rundumleinwand […].“ #1 Den meisten zeitgenössischen Leser*Innen dürfte klar gewesen sein, dass Eppendorfer hier nicht nur auf eine allgemeine Überforderung anspielt, wie sie alle Teenager erleben: Zu Lebzeiten war er als der „Ledermann“ bekannt, der als Siebzehnjähriger einen Mord begangen, danach zehn Jahre im Gefängnis verbracht und sich anschließend der schwulen SM- und Lederszene Hamburgs angeschlossen hatte. Eppendorfer, der als Hans-Peter Reichelt in Lütjenburg geboren und unter anderem in Kiel aufgewachsen war, beschreibt seine überaus schwierige Jugend bis zum in einer psychotischen Krise begangenen Mord an einer Freundin der Familie später bemerkenswert lakonisch:

Kriegsjahrgang 42, Entstehungsort: Lütjenburg, Kreis Plön, ein privates Krankenhaus. Dann Schlesien, Schwaben und Schleswig-Holstein, an der Hand einer halbblinden, gehbehinderten Großmutter. Schmatz. Und zwischendurch fand immer wieder eine Mutter statt für ein paar Stunden im Jahr und mit Telegrammen zu den Geburtstags- und Festtagen. Mit 13 Tod der Großmutter. Abschub mit Erbteil ins Internat. Und dann mit 17 ein Mord an diesem Muttertrauma, wüst, ungenau und bis an den Rand der Selbstzerstörung.

Hans Eppendorfer: Barmbeker Kuß. Szenen aus dem Knast. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, S. 92.

Die zehn Jahre Haft, zu denen er verurteilt wurde, nutzte Eppendorfer zu ersten Schreibversuchen und einer journalistischen Ausbildung, und er knüpfte brieflichen Kontakt mit Autoren wie Hansjörg Martin und Peter Rühmkorf, die ihn nach der Entlassung bei seinen schriftstellerischen Versuchen unterstützen würden. Dennoch war die Zeit im Gefängnis für ihn ausgesprochen traumatisch, und er hat später wiederholt darüber geschrieben:

Ich weiß nicht, ob du dir vorstellen kannst, wie es in so einem ungeheuer starren, autoritären, unduldsamen und intoleranten Machtmechanismus ist, den so eine Jugendstrafanstalt darstellt. Mit diesen vielen Gittern und Eisentoren, den vergitterten Fenstern und den abgezirkelten Runden, die du im Hof laufen darfst. Mit gewichsten Stiefeln und Uniformen und Mützen und Kontrollblicken, mit Trillerpfeifen und mit Karabinern auf den Wachtürmen. Weißt du, wenn dann dieses Gefühl von Ohnmacht in dich eindringt, daß es dir fast bis zu den Nasenwurzeln steigt und du meinst, daran zu ersticken, du dich hinsetzen mußt und dir sagst: ich halte es nicht mehr aus, dann ist es wie ein Überdruck, bist kurz davor, aufzustehen und mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen aus dem günstigsten Winkel. Dann würde es schneller gehen, nicht mehr weh tun.

Hans Eppendorfer: Barmbeker Kuß. Szenen aus dem Knast. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, S. 20.

Schon bald nach seiner Entlassung 1970 und dann wieder 1973 und 1976 führte Eppendorfer lange Interviews mit dem Schriftsteller Hubert Fichte, die 1977 in Buchform erschienen. In Der Ledermann spricht mit Hubert Fichte äußert sich Eppendorfer, der mittlerweile sein an sein Hamburger Wohnviertel angelehntes Pseudonym angenommen hatte, absolut schonungslos über seine Jugend, den von ihm begangenen Mord, seine Fantasien, Ängste, Begierden und sexuellen Praktiken – es ist ein bis heute schockierendes und beeindruckendes Buch, wenngleich mittlerweile nachgewiesen wurde, dass Eppendorfer und Fichte teils recht drastische Selbststilisierung betrieben und es mit den Fakten nicht immer genau nahmen. Der unbekümmerte Umgang Fichtes mit dem Interviewmaterial, das er vor Erscheinen des Buchs bereits für seinen Roman Versuch über die Pubertät (1974) verwendet und zu einem Stück montiert hatte, führte zum Bruch zwischen den beiden.

In den folgenden Jahren und Jahrzehnten war Eppendorfer in verschiedensten Formen schriftstellerisch aktiv – als Verfasser von autobiografischen und fiktionalen Texten, als Mitarbeiter und zeitweise Chefredakteur des schwulen Magazins him applaus, aber auch als Berater und Autor für Filmprojekte über St. Pauli sowie als Schreiber von Kinderbüchern. Über seine radikal subjektiven und dabei äußerst schonungslosen Texte sagte er 1979 in einer Art Selbstinterview:

Nennen wir sie mal zuerst: Selbstfindungstexte, Bewußtseinstexte, Texte zur Standortüberprüfung, Texte aus meinem ganz privaten Schrebergarten […]. Versuche, und zwar zuerst an der eigenen Person, mit allen Beschränkungen und Möglichkeiten, die mir zu Gebote stehen. Ich habe mit meinen Texten, mit dem Teilnehmen daran, anderen Menschen gestattet, mir und meinem privaten Schnürboden, meiner kleinen Drehbühne mit der eigenwilligen, neugierigen Laufkatze für die Länge von ein paar Seiten über die Schulter zu schauen.

Hans Eppendorfer: Berührungen – Über das Knacken normaler Männer. In: Hans-Ulrich Müller-Schwefe: Männersachen. Verständigungstexte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979, S. 180-195, hier S. 193.

An anderer Stelle spricht er davon, Literatur schaffen zu wollen, „die dich an die Hand nimmt und über die Straße führt. Mehr will ich nicht damit.“ #2 Am 23. Januar 1999 verstarb Hans Eppendorfer an einem Hirntumor.

15.6.2022 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Hans Eppendorfer: [Einleitung]. In: Ders. (Hrsg.): Kleine Monster. Innenansichten der Pubertät. Hamburg: Hoffmann und Campe 1985, S. 6.

2 Hans Eppendorfer: Barmbeker Kuß. Szenen aus dem Knast. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981, S. 93.