Helmut Heißenbüttel

Heißenbüttel, Helmut.

Geboren in Wilhelmshaven-Rüstringen am 21. Juni 1921
Gestorben in Glückstadt am 19. September 1996

Helmut Heißenbüttel gehört (wie etwa auch Wolfdietrich Schnurre) zu der Schriftstellergeneration, deren Werk von der Erfahrung des zweiten Weltkriegs entscheidend geprägt wurde. Heißenbüttel, der im Russlandfeldzug 1941 schwer verwundet wurde, kehrte mit der Überzeugung aus dem Krieg zurück, dass es einer grundlegenden skeptischen Erneuerung der Dichtung bedürfe, und sein gesamtes Werk ist als Versuch zu verstehen, Regeln und Klischees der Sprache und des Literaturbetriebs kritisch zu überprüfen. Bevor er sich als Schriftsteller und Redakteur einen Namen machte, studierte er Architektur, Germanistik und Kunstgeschichte in Dresden, Leipzig und Hamburg. Auch wenn seine literaturwissenschaftliche Dissertation unvollendet blieb, ist er als „Schriftstellerwissenschaftler“ anzusehen: Sein Werk ist in ungewöhnlichem Maße durch die Literaturgeschichte geprägt, die er in Form von Zitaten unmittelbar in sein Werk einmontiert. Auch produziert Heißenbüttel nicht nur eigene Texte, sondern ist immer auch Literaturkritiker und ‑theoretiker, ohne dass die eine Tätigkeit auf Kosten der anderen ginge: „Er gehört zu den wenigen Autoren, die sowohl auf dichterischer als auch auf diskursiver Ebene Bedeutendes geleistet haben.“ #1 Neben der literarischen Tradition ist es vor allem das höchst gegenwärtige Medium des Radios, das Heißenbüttels Karriere geprägt hat: Nach kurzer Tätigkeit als Lektor wurde er 1957 Mitarbeiter in der von Alfred Andersch gegründeten Redaktion „Radio-Essay" beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart und übernahm 1959 von Andersch die Leitung dieser Redaktion. Damit spielt Heißenbüttel eine entscheidende Rolle beim Versuch, der Literatur in einem neuen, experimentellen Medium einen Platz zu verleihen: „Man kann die ersten 10, 15 Jahre des Radio-Essays durchaus als heroische Phase eine Kulturprogramms bezeichnen, das bundesrepublikanische Kulturgeschichte geschrieben hat“, #2 und Heißenbüttel arbeitete in dieser Zeit mit fast allen, die im literarischen Feld Rang und Namen hatten (darunter Ingeborg Bachmann, Arno Schmidt, Hubert Fichte, Martin Walser und Gisela Elsner). Auf diese Weise wurde er selbst zu einer einflussreichen Figur im Literaturbetrieb, was wiederum in etlichen seiner literarischen Publikationen reflektiert wird. 1981, nach seiner Pensionierung beim SDR, zog Heißenbüttel nach Borsfleth im Kreis Steinburg, wo er bis zu seinem Tod lebte.

Heißenbüttels erste Texte, die erst Jahrzehnte später veröffentlicht wurden, folgen noch relativ stark der literarischen Konvention: Die 3 Erzählungen(1945–1947) treffen mit ihrem unsentimentalen, lakonischen Stil und ihrer Thematik recht genau den Ton der sogenannten „Trümmerliteratur“, und seine Frühen Gedichte aus den späten 1940er und frühen 1950er Jahren geben sich betont avantgardistisch und versuchen damit, an eine in der Nazizeit unterbrochene literarische Tradition anzuknüpfen. #3 Schon hier ist jedoch die von Heißenbüttel später ausgebaute Ästhetik des Zitats erkennbar, die oft ideologiekritische Absichten hat, wie etwa in der Auseinandersetzung mit einem Hit aus seiner Kindheit:

Das gibt’s nur einmal, das kommt nicht wieder,
das war zu schön, um wahr zu sein.“
Eine ganze begrabene Kindheit in einem Dutzend
Schlagertakte.

Helmut Heißenbüttel: Kombination 8. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Helmut Heißenbüttel. Text + Kritik Nr. 69/70. München: Edition Text + Kritik 1981, S. 29, V. 1–4.

In den Textbüchern – kurze, durchnummerierte Hefte mit spröder Umschlaggestaltung, die in den nächsten Jahren seine bevorzugte Publikationsform werden – führt Heißenbüttel diese Zitatkunst fort. Das Spiel mit Jahrhunderten sprachlicher und literarischer Tradition kann eine Vielzahl von Effekten erzielen: Die Texte sind verwirrend, selbstreferentiell, ironisch, unterhaltsam und gelegentlich auch beklemmend wie in Deutschland 1944, einer Collage aus nationalsozialistischen Texten. Hier wird durch die Montage und die Wiederholungen jeder Inhaltsbezug ausgelöscht, und übrig bleibt nur der böse Sound des Faschismus:

hängt ihr am Leben sie geben es brünstig für Höheres niemand zwang sie dazu denn ihres Herzens Schlag ihrer Seele Gebot hängt ihr am Leben sie geben es brünstig für Höheres niemand zwang sie dazu denn ihres Herzens Schlag ihrer Seele Gebot  die lange Dauer des Krieges hat zu einer allgemeinen Lockerung der strengen Auffassung über die Verwerflichkeit der zusätzlichen Versorgung der Volksgenossen geführt […]

Helmut Heißenbüttel: Deutschland 1944. In: Textbücher 1–6. Stuttgart: Klett-Cotta 1980, S. 266.

Eine solche Literatur ist nicht unbedingt leicht zugänglich: Selbst wenn Heißenbüttel mit populären Formen spielt, kann man davon ausgehen, dass ein Inselkrimi aus seiner Feder #4 keine konventionelle Räuber-und-Gendarmengeschichte aus Sylt oder Fehmarn ist, und auch seine Einfachen Geschichten sind nur auf den ersten Blick unkompliziert. #5 Bei aller Sprödigkeit beharrt der Autor aber darauf, dass seine Texte bei richtiger Betrachtungsweise inklusiv und keinesfalls hermetisch, sondern im Gegenteil ausgesprochen welthaltig sind:

es genügt ja nicht bloß Avantgardist zu sein
alles herein zu nehmen zu verschlingen schließt es ein

Helmut Heißenbüttel: Februar. In: Textbuch 8. 1981–1985. Stuttgart: Klett-Cotta 1985, S. 10.

Für die Leser*Innen bedeutet das, dass sie sich auf eine durchaus „schwierige“ Literatur einlassen müssen, die aber immer transparent im Hinblick auf ihre Herstellungskontexte ist. Durch die Absicht des Autors, schonungslos zu beobachten, was ist, sind seine Werke auf sehr direkte Weise an ihre Zeit und ihr Milieu gebunden. Oft vermischt sich diese lakonische Konkretion auf komische Weise mit der Vorliebe des Autors für das Zitat, wie etwa bei dieser modernen Paraphrase von Goethes Wahlverwandtschaften:

Eduard – so nennen wir einen Rundfunkredakteur im besten Mannesalter – Eduard hatte im D-Zug München-Hamburg (Ankunft Hauptbahnhof 21.19) die schönsten Stunden eines Julinachmittags (25.7.1968) zugebracht und betrachtete mit Vergnügen die Gegend zwischen Lüneburg und Hamburg.

Helmut Heißenbüttel: Projekt Nr. 1. D’ Alemberts Ende. Neuwied, Berlin: Luchterhand 1970, S. 11.

Gleichzeitig hat es Heißenbüttel aber auch auf das Überzeitliche abgesehen, wenn er in seinen Texten nicht nur die Zeitumstände beschreibt, sondern auch die Regeln untersucht, die der Dichtung zugrunde liegen. Diese sich ständig ändernden Regeln lassen sich mithilfe von Dichtung analysieren, und dieses Verfahren ist nach seiner Ansicht durchaus lehrbar:

Lehrbar nicht nach Regeln oder nach der Vorschrift, die nur sucht, was stimmt oder nicht stimmt. […] Was lehrbar ist, ist eine Einstellung. Eine Einstellung, die dadurch gekennzeichnet ist, daß sie sich vor allem und um jeden Preis offen hält. In dieser Einstellung wird man bald erkennen, daß die Welt des Sprechens voll von dem ist, was man so poetisch, dennoch-poetisch nennen kann.

Helmut Heißenbüttel: Von der Lehrbarkeit des Poetischen oder Jeder kann Gedichte schreiben. In: Von fliegenden Fröschen, libidinösen Epen, vaterländischen Romanen, Sprechblasen und Ohrwürmern. 13 Essays. Stuttgart: Klett-Cotta 1982, S. 140.

Eine solche vom Anspruch her durchaus utopische „Dennoch-Poesie“ lohnt auch dann noch die (Wieder-)Entdeckung, wenn die literarische Welt Heißenbüttels, die alte Bundesrepublik der 60er bis 80er Jahre, mittlerweile untergegangen ist. Zum hundertsten Geburtstag des Dichters am 21. Juni 2021 hat der Klett-Cotta-Verlag die ersten sechs Textbücher in einer Neuauflage herausgebracht, #6 und es bleibt zu hoffen, dass dieser Neudruck das Interesse für Helmut Heißenbüttel und sein Werk neu entfacht.

8.2.2021Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Thomas Combrink: Art. „Heißenbüttel, Helmut“. Killys Literaturlexikon, Bd. 5. Berlin: De Gruyter 2009.

2 Stephan Krass: „Die große Kulturmaschine Funk“. Frankfurter Rundschau, 24. Juni 2015. www.fr.de/kultur/grosse-kulturmaschine-funk-11630269.html

3 Beide in Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Helmut Heißenbüttel. Text + Kritik Nr. 69/70. München: Edition Text + Kritik 1981.

4 Helmut Heißenbüttel: Inselkrimi. In: Textbuch 9. 3 x 13 x 13 Sätze. Stuttgart: Klett-Cotta 1986.

5 Helmut Heißenbüttel: Das Ende der Alternative. Einfache Geschichten. Projekt 3.3. Stuttgart: Klett-Cotta 1980.

6 Helmut Heißenbüttel: Textbücher 1–6. Stutgart: Klett-Cotta 2021, ISBN 978-3-608-98461-3.