Selma Lagerlöf

Lagerlöf, Selma Ottilia Lovisa.

Geboren auf Gut Mårbacka (Sunne, Schweden) am 20. November 1855
Gestorben auf Mårbacka am 16. März 1940

Es ist nicht bekannt, ob die neben Astrid Lindgren berühmteste Autorin Schwedens, Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf, jemals Schleswig-Holstein bereist hat. Vermutlich hat sie es auf einer ihrer zahlreichen Reisen von ihrer geliebten Heimat Värmland aus in den Süden, nach Italien, in die Schweiz oder Palästina, gezwungenermaßen ein ums andere Mal durchquert, aber das dürfte es dann auch schon gewesen sein. Nein, ihre Verbundenheit mit Kiel begründet sich durch etwas anderes.

Im September 1932 zählt Selma Lagerlöf längst schon zu den international erfolgreichsten Autorinnen. Soeben hat sie in ihrer Heimat ihr neuestes Werk herausgebracht, den pessimistischen dritten Teil ihrer Autobiografie, Dagbok för Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf (Tagebuch der Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf). Es soll ihr letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Buch sein. Ihr fulminantes Debüt, der episodenhafte Läuterungsroman Gösta Berlings saga (Gösta Berling) ist da bereits seit 41 Jahren ein Gegenwartsklassiker. Wie die meisten ihrer folgenden Romane spielt auch dieser hauptsächlich in ihrer Heimatregion Värmland, der sie zeitlebens die Treue hält. Fast jährlich erscheinen fortan weitere Romane und Erzählungsbände, darunter Drottningar i Kungahälla (1899, Die Königinnen von Kungahälla), der zweiteilige Auswandererroman Jerusalem (1901/02, Jerusalem), die biblisch inspirierten Kristuslegender (1904, Christuslegenden) und natürlich der naturbeseelte Kinderbuchklassiker Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige (1906/07, Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen).

1909 erhält Selma Lagerlöf als erste Frau den Nobelpreis für Literatur. Ihr beachtenswerter Ausstoß an literarischen Schriften geht von nun an merklich zurück und macht einem gesteigerten sozialen und karitativen Engagement Platz: Selma Lagerlöf setzt sich vermehrt für Frauenrechte, Kinderbildung und gesellschaftliche Außenseiter ein – allesamt Themen, die sich bereits in mehr oder weniger starker Ausprägung in ihrem bisherigen Werk wiederfinden lassen und die letzten Endes wohl ebenfalls dazu führen, dass ihr im September 1932 eine unerwartete Ehre zuteil wird. In ihrer Ausgabe Nr. 221 berichten die Kieler Neuesten Nachrichten in der Rubrik Kunst und Wissenschaften im Tonfall einer nüchternen Pressemitteilung, dass der weltweit gefeierten Nobelpreisträgerin in Abwesenheit die Ehrendoktorwürde des Theologischen Fachbereichs der Universität Kiel verliehen worden sei, und zitieren aus dem Text des Diploms:

Unter dem Rektorat des Professors der Volkswirtschaftslehre, Dr. phil. August Skalweit, verleiht die Theologische Fakultät durch ihren Dekan, den Professor der Kirchengeschichte, D. Kurt Dietrich Schmidt, der Dichterin Selma Lagerlöf aus Mårbacka, Värmland, Schweden, die in der Darstellung religiösen Lebens feinstes Verständnis für dessen mannigfaltige Regungen gezeigt und den Sinn für das Ewige dadurch geweckt und gestärkt hat, deren Christuslegenden und Schilderungen heiliger Stätten von Christen aller Länder mit dankbarer Freude gelesen werden, die dem Land und Volk des Heldenkönigs Gustav Adolf überall neue Freunde gewonnen hat, ehrenhalber die Würde eines Doktors der Theologie.
    Kiel, im 300. Gedenkjahr des Todes Gustav Adolfs und am 100. Jahrestage der Gründung des Gustav-Adolf-Vereins, dem 19. September 1932

Zit. n. Heinrich Detering: „Dr. h.c. Selma Lagerlöf. Zur Erinnerung an ihre Kieler Ehrenpromotion 1932“. In: Christiana Albertina 48 (1999), S. 417.

Alle Unterlagen zu dem Vorgang scheinen im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen zu sein, so dass sich heute nur noch erahnen lässt, was die Beweggründe für diese Verleihung gewesen sein mögen. Ein Blick auf den genannten Ordinarius für Kirchengeschichte, Prof. Dr. Kurt-Dietrich Schmidt (1896-1964) mag hier einen wichtigen Hinweis liefern. 1929 folgt der junge Privatdozent einem Ruf an die Universität Kiel, wo er sich in der protestantisch-konservativen Partei Christlich-Sozialer Volksdienst engagiert. Das Aufkommen des Nationalsozialismus Anfang der 1930er Jahre beobachtet Schmidt von Anfang an mit tiefem Argwohn. Und so erkennt er womöglich in der schwedischen Literatin und grenzenlosen Menschenfreundin Selma Lagerlöf eine Mitstreiterin im Geiste, wie Heinrich Detering mutmaßt:

Die ungewöhnliche Auszeichnung Selma Lagerlöfs durch die Kieler Universität 1932 erinnert deshalb nicht allein an die Vermittlungsposition Kiels zwischen Deutschland und dem Norden, sondern bedeutete auch eine politische Demonstration gleichsam in letzter Minute: Person und Werk der erklärten christlich-antifaschistischen Dichterin sollten, als die Machtergreifung schon fast in Sichtweite gerückt war, als Gegengewicht gegen völkische und nationalsozialistische Bewegungen auch innerhalb von Kirche und Universität geehrt werden.

Ebd., S. 420.

Selma Lagerlöfs Reaktion auf die Verleihung der Kieler Ehrendoktorwürde (ihre dritte nach den Universitäten Uppsala, 1914, und Greifswald, 1928) ist nicht überliefert. 1933 beteiligt sie sich finanziell an der Rettung jüdischer Flüchtlinge aus Deutschland. Nach dem Ausbruch des Winterkrieges zwischen Finnland und der Sowjetunion spendet sie ihre Nobelpreismedaille, um mit dem Erlös den Überlebenskampf der finnischen Bevölkerung zu unterstützen. Und noch im Jahre ihres eigenen Todes verhilft die 81-Jährige der deutsch-jüdischen Schriftstellerin und späteren Nobelpreisträgerin Nelly Sachs mit einem Empfehlungsschreiben in letzter Minute zur rettenden Flucht von Berlin nach Stockholm.

Karl-Dietrich Schmidt wendet sich nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 in verschiedenen Veröffentlichungen zur christlich-germanischen Problematik und vor allem mit der Mitgründung der Bekennenden Kirche in Schleswig-Holstein offen gegen die neue Regierung, bis er 1935 wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ in den Vorruhestand versetzt wird.

Seit dem 16. Dezember 1999 erinnert eine Gedenktafel am Literaturhaus im Kieler Schwanenweg an Selma Lagerlöfs Ehrendoktorwürde und, zumindest indirekt, auch an ihren Kieler Fürsprecher Prof. Dr. Karl-Dietrich Schmidt.

28.5.2021Jens Raschke