Svenja Leiber

Leiber, Svenja

Geboren in Hamburg 1975

Ihr literarischer Blick geht an die Ränder. Ins russische Hinterland, in die Wüsten Saudi-Arabiens und Jordaniens, ins Baltikum und nach Norddeutschland, wo Svenja Leiber in Klein Schenkenberg nahe Lübeck aufgewachsen ist. Verlassene und versehrte Landschaften bilden immer wieder den Hintergrund ihrer Texte, ihres literarischen Debüts, der Erzählsammlung Büchsenlicht (2005), aber auch der Romane Schipino (2010), Das letzte Land (2014), Staub (2018) und Kazimira (2021).

Längst lebt Svenja Leiber, 1975 in Hamburg geboren, mit ihrer Familie in Berlin – aber sie erzählt davon, wie es ist, wenn die Verhältnisse eng sind und es vielleicht anderswo ein richtigeres Leben gäbe für ihre Protagonistinnen und Protagonisten.

„Antiheimatliteratur“ nennt Leiber selbst die 13 Erzählungen, mit denen sie debütierte. Eine Sammlung von Szenen ländlichen Lebens, die den Verlust dörflicher Kultur als krasse Verlassenheit der Figuren darstellt, sprachlos, ausgesetzt, doch nicht ohne Humor. Hier verblüht die Jugend am Glascontainer, während häuslicher Missbrauch, Vergiftung von Natur und Kommune um sich greifen.

Das Dorf reckte sich und blinzelte verregnet. Der EDEKA-Laster fuhr auf den Buswendeplatz und hupte, Frau Leites überprüfte die Maulwurfsfallen im Rasen, sammelte die Schnecken von den Beeten und verbrühte sie … Die Trecker donnerten nach und nach aus dem Dorf und ließen eine stille Herde von Bauernhäusern und Mastställen zurück.

"Büchsenlicht", 2005

In Schipino bevölkern das hier nun russische Dorf längst Moskauer Intellektuelle, die sich, auf der Flucht vor dem politischen System, in die innere Immigration begeben und, wie zeitgenössische Oblomows wirkend, auf Erlösung hoffen. Der Protagonist, Jan Riba, der sein Berliner Büro, seine Wohnung und seine Freundin hinter sich gelassen hat, verliert sich in ihrer Gemeinschaft, bleibt ein Jahr, und begegnet in aller Lethargie nicht nur dem Phänomen der Demut, sondern einem Zustand, den er immerhin als „Nicht-Nichts“ bezeichnet.

Dem Leben der Anderen zusehen, das kennzeichnet viele von Leibers Figuren.  Ihre Heldinnen und Helden scheinen immer ein wenig hinterherzuhinken. Randfiguren, Überforderte, Scheiternde im Lauf der Zeit, stets leicht außen vor, während das große Rad der Geschichte neben ihnen dreht und durchdreht.

Auf der Bildgrundlage von Gemälden Edvard Munchs entwickelt so Leibers zweiter Roman Das letzte Land die Geschichte eines jungen Geigers vom Dorf, welcher vom Lübecker Mäzen Max Linde ein wertvolles Instrument geschenkt bekommt, die „Lindische Geige“. Es wird die traurige Lebensgeschichte des synästhetisch begabten Musikers Ruven Preuk von 1911 bis in die 70er Jahre erzählt, seine Mühe, Klassismus und Armut zu überwinden und in die „besseren Kreise“ der Musikwelt vorzudringen, bis der Ausbruch des Krieges seine Karriere, und der Nationalsozialismus das Leben seiner Liebe, der Jüdin Rahel Goldbaum, zerstört.

Das letzte Land ist ein historischer Roman, der einerseits das Verschwinden dörflicher Musikkultur im 20. Jahrhundert, vor allem aber ein persönliches Scheitern und das Scheitern der deutschen Geschichte parallel erzählt.

Und auch in Staub lässt Leiber ihren Helden straucheln, suchen, sich verlieren. Der Roman beschreibt die konstruierten Gegensätze von Orient und Okzident, folgt dabei zwei Erzählsträngen, zwei Schicksalen, die beide durch den Resonanzraum des Nahen Ostens ziehen. Der Ich-Erzähler, Jonas Blaum, ein Arzt, spezialisiert auf Alterungsprozesse, reist 2014 nach Jordanien, wo sich sein Leben mit dem eines kranken Kindes verschränkt. Die Begegnung erinnert ihn zunehmend an den größten Verlust seines Lebens, weshalb er sich gezwungen sieht, noch einmal an den Anfang, in die eigene Kindheit zurückzukehren.

Immer ist ein Schatten neben mir, und oft halte ich mitten im Gehen irgendwo inne, denn es scheint mir, als habe sich in meinem Augenwinkel etwas bewegt, als habe sich ein Baum mit seiner Krone bis zur Erde gebogen oder im Dämmerlicht eines Vordachs oder Baugerüstes eben noch ein Mensch gehangen. Aber da ist nichts. Immer ist da nichts.

"Staub", 2018

„Der ganze Text schließt eine Reihe ab, ist der dritte Roman, in welchem wiederholt aufgeblättert wird, wie jemand, teils gesucht, teils gezwungen, die symbolische Ordnung verlassen muss, diese im Grunde illusorische Konstruktion, mit welcher sich vor allem weißes, westliches Denken seiner selbst zu versichern sucht, um nicht einer möglichen Leere anheim zu fallen. Dem stellt der Roman die Option des Nichtwissens, des Irrens, des Wahns und letztlich die Möglichkeit der eigenen Auflösung gegenüber. Die Aufgabe des Eigenen wird hier zum Aufstand gegen den eigenen Tod“, äußert Leiber selbst über dieses Projekt.

Die Frauen und Mädchen in Kazimira, Leibers bislang jüngstem Roman (2021), sind dagegen stark, wehren sich gegen provinzielle und patriarchale Enge. Hier werden, neben der „braunen“ Geschichte des Bernsteins, zwei Familiengeschichten aus dem Umfeld der Bernsteingrube „Anna“ im früheren Samland erzählt: die der Arbeiterfamilie Damerau, und die der jüdischen Unternehmerfamilie Hirschberg. Leiber erzählt von Müttern, Schwiegertöchtern und Enkelinnen. Von Jadwiga, die eine triste Ehe führt und Kazimiras große Liebe wird. Von Henriette Hirschberg, der Bergwerksbesitzerfrau, die als frühe Feministin die Idee eines selbstbestimmten Lebens in den Alltag sickern lässt.

Verhandelt wird daneben ein gesellschaftlicher Raum in der Zeit der Industrialisierung, ein Milieu im 19. Jahrhundert, in dem Misogynie und Antisemitismus, wie auch die Idee der Eugenik und der daraus erwachsende Gedanke vom „unwerten Leben“, über Jahrzehnte gedeihen konnten und die Ideologie und Dynamik des Nationalsozialismus sich vorbereiteten.

Leiber hat Antennen für die leisen Verschiebungen, auch für die Weltgeschichte im Kleinen. Dabei sind ihre Figuren Menschen im Wartestand, oft etwas schräg ins Leben gebaut und gerade dadurch seltsam begreiflich. Menschen, die herausfallen aus den Konventionen, in denen sie die Mehrheitsgesellschaft gern festgelegt sähe.

Auch den Schichten der Landschaft liest Leiber dabei die Geschichte ab, erzählt, wie die Vergangenheit in der Natur, in der Geographie, dem geologischen Gedächtnis bleibt.

Und ist nicht irgendeine Landschaft. Seit Jahrzehnten herrscht Frieden, aber diese Landschaft sieht aus, als sei der Krieg dort erfunden worden: umgeben von zitterndem Jungwald eine riesige Wunde, klaffend, in Stufen und Wege gegliedert, ausgeschabt, ein unglaubwürdiges Nebeneinander von Staub und Schlamm, wie es nur die Verlassenheit der toten Welt zustande bringt.

"Kazimira", 2021

So gewinnt Svenja Leibers Erzählen auf vielen Ebenen Bedeutung: menschlich, literarisch, politisch.

Die Schriftstellerin ist selbst eine, die auszieht, die Welt zu begreifen. Und die es um- und hinaustreibt. Ihr ist es wichtig, dass sie vor Ort ist, Landschaften und Leute erkundet. Sie recherchiert mit wissenschaftlicher Akribie und mit allen Sinnen. In Russland und der Ukraine, in Kuba, Jordanien und Israel: „Ich muss mich einmal selbst durch die Landschaften, in die ich meine Figuren hineinerfinden will, bewegt haben, wenigstens teilweise, um das Verhältnis von Gelände und Himmel zu kennen beispielsweise oder um halbwegs zu wissen, wie es sich in so einer Landschaft steht und geht.“ So sagt sie es im Interview zu Kazimira auf der Website des Suhrkamp Verlags.

Die Aufbrüche, die Svenja Leibers Figuren dabei wagen, sind immer auch Fluchten, ihr Ankommen ist eher ein Stranden und das Bleiben eine Form des inneren Widerstands. „Man ist hier wie in einer Pause ohne Anfang und Ende“: Der Satz aus dem Roman Schipino beschreibt diesen Zustand ziemlich gut.

Vielleicht beschreibt er auch, was norddeutsch ist an Svenja Leibers Schreiben. Das, was sie in ihrem Debüt Büchsenlicht als „Landregen im Gemüt“ bezeichnet. Melancholie und Dinglichkeit, die sich auch in ihrer klaren Sprache niederschlagen. Eine Sprache, die sich manchmal widerwillig ihren Weg bahnt zu Worten und Sätzen, die Zeit braucht, sich zu entfalten, die sich Zeit nimmt zum Erzählen.

Die Schriftstellerin ist eine Beobachterin und Lauscherin, die nicht nur das Gesagte, sondern auch das Innere ihrer Figuren heraushört. Jan Ribas Unentschiedenheit oder Kazimiras vielstimmige Einsamkeit. Das Raunen der sich verändernden Zeiten und Stimmungen, und wie es sich ausbreitet in Schriften und Gesprächen und sich festsetzt in den Köpfen. Das Gute und das Schlechte.

Oft meint man auch, so etwas wie „russische Seele“ in diesen Figuren zu spüren, nicht nur in Schipino. Da können einem die Leute von der Nehrung oder aus Ruvens Dorf als ferne Verwandte von Tolstois Landbevölkerung erscheinen oder wie Nachfahren der verharrenden Helden von Tschechow.

Aber plötzlich liegt die Peripherie auch mitten in der Großstadt, wie in der Erzählung Ein alter Falter, die Leiber in Kiel 2014 den erstmals verliehenen Preis Neue Prosa einbrachte. Die Koordinaten, die zwischen Wohnung, Bibliothek und der Bäckerei, wo er seinen Frühstückskaffee trinkt, am Alexanderplatz Kolzows Leben markieren, ergeben ein eng begrenztes Biotop.

Auch hier tappt man hinein, bleibt hängen an der Figur, die wie viele andere den Lauf der Zeit nicht zu fassen kriegt und trotzdem mit ihm treibt. Wie Leiber das beschreibt, in diesen kleinen kargen Sätzen – das ist von einer Intensität, in der sich die Welt mit großer Klarheit zeigt.

Und vielleicht ist es am Ende genauso, wie es Kazimira erlebt – und wie es Kolzow sagt:

„Um die Laterne fliegen Mücken und ein einzelner dicker Falter. Kolzow meint zu hören, wie er mit seinem pelzigen Leib gegen das Laternenglas stößt. ‚Näher kommst du nich‘, sagt Kolzow leise, ‚näher nich.‘ Das ist schon alles.“

26.2.2022 Ruth Bender