Siegfried Lenz

Lenz, Siegfried

Klassischer Erzähler mit großem Publikum

Geboren in Lyck/Ostpreußen (heute Ełk/Polen) am 17. März 1926
Gestorben in Hamburg am 07. Oktober 2014

Er gehört neben Heinrich Böll und Günter Grass zu den renommierten und beispielhaften Nachkriegsautoren – seine Bücher erreichen Millionenauflagen, wurden mehrfach preisgekrönt und in über zwanzig Sprachen übersetzt: Siegfried Lenz, dessen große Romane Deutschstunde (1968) und Heimatmuseum (1978) wie sein Kurzgeschichtenwerk seit langem zum Kanon der deutschen Literatur gehören. Obwohl nach Kriegsende in erster Linie Hamburg verbunden, hat ihn sein Lebensweg immer wieder nach Schleswig-Holstein und Dänemark geführt.

Siegfried Lenz wurde am 7. März 1926 als Sohn eines Zollbeamten geboren, der seinem Kind distanziert gegenüberstand und früh verstarb. Diese Situation sollte sich in einer Arbeitskonstante niederschlagen: „Die Erfahrung der Vaterlosigkeit trug in erheblichem Maße dazu bei, dass Lenz dem Vater-Sohn-Thema einen enormen Stellenwert in seinen Werken einräumte.“ #1 Lenz wuchs, während die Mutter in Braunschweig erneut heiratete, bei seiner Großmutter auf, die ihn mit ihren Erzählungen prägte. Er ging in Masuren zur Schule, absolvierte 1939/40 einen neunmonatigen Kurs für Hochbegabte an der Klaus-Harms-Schule in Kappeln und bestand kriegsbedingt 1943 das Notabitur in Samter (Posen). Lenz wurde zur Marine eingezogen, desertierte kurz vor Kriegsende, versteckte sich in Dänemark und geriet schließlich in britische Kriegsgefangenschaft. „Bis zum Winter desselben Jahres reiste er als Dolmetscher mit einer Entlassungskommission durch Schleswig-Holstein, um bei der Ausstellung von ‚release documents‘ mitzuhelfen.“ #2 Erst 2007 stellte sich heraus, dass Lenz Mitglied der NSDAP gewesen war, jedoch ohne sein Wissen; offenbar wurde er im Rahmen eine Sammelverfahrens eingegliedert. Über seine Jugend hat er in seinen autobiographischen Schriften allerdings auch „unzuverlässige Aussagen“ #3 gemacht.

Ab 1946 lebte Lenz zur Untermiete in Bargteheide  #4 und studierte Philosophie, Anglistik und Literaturgeschichte in Hamburg, wo er mit ersten journalistischen Arbeiten, vor allem für den Rundfunk, begann. Er wurde 1948 Volontär und 1950 Feuilletonredakteur bei der Welt, in der 1951 sein Debütroman Es waren Habichte in der Luft vorabgedruckt wurde. Auf der Arbeit lernte Lenz seine spätere Frau Liselotte kennen; die 1949 geschlossene Ehe dauerte bis zum Tod der Partnerin im Jahr 2006. Vier Jahre später hat er die Dänin Ulla Reimer geheiratet. #5 Ab 1951 lebte Lenz als freier Schriftsteller in Hamburg, wo er 1963 ein Haus erwarb. Bereits seit 1957 gab es parallel dazu ein Sommerhaus auf der dänischen Insel Alsen; es wurde 1986 aufgegeben und durch einen Bungalow in Tetenhusen (Schleswig-Holstein) ersetzt. – Lenz nahm ab 1952 mehrfach an Treffen der Gruppe 47 teil.

In den politisch turbulenten 1960er Jahren setzte sich Lenz gemeinsam mit Günter Grass für Willy Brandt ein, ohne dessen Partei anzugehören; später „begleiteten beide den inzwischen zum Bundeskanzler gewählten Brandt nach Warschau, wo sie dessen berühmten Kniefall vor dem Denkmal der Helden des Ghettos und die Unterzeichnung des Warschauer Vertrages miterlebten“. #6 Lenz unterstützte auch den als „Der rote Jochen“ bekannten schleswig-holsteinischen SPD-Politiker Jochen Steffen (1922–1987); mit Helmut Schmidt, an dessen Seite er 1977 nach Polen reiste, war er befreundet. Die Annahme des Bundesverdienstkreuzes lehnte Lenz allerdings 1979 ab und begründete dies rückblickend so: Zum einen sah er seine Tätigkeit nicht als „verdienstwürdig“ an, zum anderen sei es in seiner Wahlheimat Hamburg „nicht gerade Gesetz, aber Gewohnheit geworden, Verdienste, Verdienstkreuze und Orden abzulehnen“. #7

Der große Erfolg von Lenz liegt „in der Gegenwartsbezogenheit seiner Werke, dem Gespür für Zeitstimmungen und der realistischen, bisweilen eher volkstümelnden Erzählweise.“ #8 Experimentelle Darstellungsweisen lehnte er ebenso ab wie eine explizite politische Stellungnahme. Zu dieser schreibt er: „Was die Literatur aufdeckt, bewußt macht und vermittelt, tut sie auf ihre Art: durch Erfinden. Sie begnügt sich nicht mit schierer Wiederholung, mit direktem Verweis, mit unverwandeltem Angebot; sie bedient sich, um zu enthüllen, der Einbildungskraft.“ #9 Es geht darum, dem Publikum „neue Perspektiven auf die Realität“ #10 zu vermitteln: „In vielen Werken steigert [Lenz] die im Detail abgebildete Welt der Masuren oder der norddeutschen Küstenlandschaft zum exemplarischen menschlichen Handlungsraum.“ #11 Lenz begann 1948, Essays und Kurzgeschichten in Zeitungen und Zeitschriften zu publizieren, die sich oft mit dem Thema der Schuld beschäftigen; dies gilt auch für sein Debüt Es waren Habichte in der Luft, über das Karl Korn 1951 in der FAZ urteilte: „Es ist erstaunlich, welche Fülle von haarscharf gesehenen Reflexen aus menschlicher Schwäche, aus dem Mut der Verzweiflung und aus gespielter Gleichgültigkeit, die sich draußenhalten will, in dem Romangeschehen sichtbar gemacht werden.“ #12

Diese kritische Haltung findet sich auch in Lenz‘ wohl größtem Erfolg, dem vielschichtigen Zeit-, Entwicklungs- und Künstlerroman Deutschstunde (1968), der die Vermengung von Schuld und Pflicht in der Zeit des Nationalsozialismus anprangert. Diese widerstreitenden Überzeugungen werden von zwei gegensätzlichen Figuren verkörpert: dem Polizisten Jens Ole Jepsen und dem an Emil Nolde angelehnten Maler Max Ludwig Nansen. In der Rahmenhandlung erinnert sich Siggi Jepsen, der Sohn des Polizisten, an die Geschehnisse, um sie aufzuschreiben. Deutschstunde brachte seinem Verfasser den Durchbruch beim großen Publikum: Innerhalb kurzer Zeit wurden 250.000 Exemplare verkauft, und das Buch stand 37 Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Die Kritik sah den Roman allerdings durchaus zwiespältig: Noch 1990 wurde geurteilt, es handele sich zwar um „literarische Vergangenheitsbewältigung“, aber der Autor hantiere dabei „mehr mit moralischen als mit politischen Kriterien“. Es gelänge ihm daher weder, der Banalität des Bösen (Hannah Arendt) überraschende Aspekte abzugewinnen, noch den bekannten „sozialpsychologischen und historisch-politischen Erkenntnissen neue hinzuzufügen“. #13 Unterdessen wird der Roman günstiger beurteilt, da sich „aus dem Abstand der Zeit die moralische Position als die literarisch lebendigere und beständigere erwiesen“ hat. #14 Er wurde 1971 sowie 2019 verfilmt und 2014 als Bühnenfassung adaptiert.

Der zweite wichtige und ebenfalls sehr erfolgreiche Roman von Lenz ist Heimatmuseum (1978), der „den Rechenschaftsbericht des Erzählers Zygmunt Rogalla über die Gründe seiner Brandstiftung an dem von ihm nach dem Krieg aufgebauten Heimatmuseum in Schleswig-Holstein“ #15 enthält: Das Museum soll so der Einflussnahme durch rechtsradikale Kräfte entzogen werden. Basis des Erzählens ist minuziöse Erinnerungsarbeit: „Ein außergewöhnlich umfangreiches Figurenensemble bevölkert die aus unzähligen Episoden, Anekdoten und Handlungssträngen zusammengesetzten Reminiszenzen. Zygmunts erlernter Beruf des Teppichwebers gerät dabei zur anspielungsreichen Metapher für sein Erzählen.“ #16 Die dreiteilige Fernsehfassung des Romans aus dem Jahr 1988 wurde im In- und Ausland stark beachtet.

Neben den Romanen ist Lenz insbesondere als Verfasser von Erzählungen zu würdigen. Standen die frühen Texte in ihrer Darstellung heroischer Einzelgänger noch unter Einfluss von Ernest Hemingway, so löste sich Lenz über die Jahre von seinem „Vorbild“. #17 Am bekanntesten ist die Sammlung So zärtlich war Suleyken mit dem Untertitel Masurische Geschichten geworden, die 1955 veröffentlicht wurde und zwanzig Liebeserklärungen an die Heimat des Autors enthält – voller Käuze und Sonderlinge, die sich schelmisch die Zeit vertreiben. „Der geistvolle und mit überlegener Ironie Naivität nur vortäuschende Sprachstil huldigt der masurischen Seele mit raffiniert einfachen, witzig prägnanten und wirklichkeitsnah ausgestatteten Kurzgeschichten, die in der deutschen Nachkriegsliteratur das seltene Beispiel unbefangen humoristischen Erzählens repräsentieren.“ #18

Dass die Literatur von Lenz mit seiner Heimat verbunden ist, bedarf kaum einer Erklärung. Sein Biograf Erich Maletzke schreibt dazu:

Man stelle sich vor, Siegfried Lenz wäre nicht in Ostpreußen aufgewachsen, hätte nicht im Norden seine Bücher geschrieben, sondern wäre ein Mann des Südens gewesen. Gewiß wäre ein völlig anderes Werk entstanden.

Erich Maletzke: Siegfried Lenz. Eine biographische Annäherung. Springe 2006, S. 178.

Maletzke verweist auf ein Interview, in dem Lenz sagt: Wenn man als Nordländer geboren sei, „mit der Dunkelheit, der Kargheit und dem verdammten Regen sein Genüge gefunden hat, empfindet man eine unwiderrufliche Hingezogenheit zu diesem Bezirk“. #19

Lenz’ Werk wurde vielfach ausgezeichnet, darunter mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis (1970), dem Thomas-Mann-Preis der Hansestadt Lübeck (1984), dem Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig (1987), dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (1988) und dem Goethepreis der Stadt Frankfurt am Main (1999). 2002 erhielt Lenz die Ehrenbürgerwürde der Stadt Hamburg und 2004 diejenige des Landes Schleswig-Holstein. Zu dieser hieß es, mit seinen Werken habe Lenz „die Landschaft Schleswig-Holsteins in aller Welt bekannt gemacht und seine Menschen einfühlsam porträtiert“. #20

Am 7. Oktober 2014 ist Siegfried Lenz in Hamburg gestorben. Seine zahlreichen Bücher sind durch die Hamburger Werkausgabe in fünfundzwanzig Einzelbänden, die Lenz‘ Hausverlag Hoffmann & Campe von 1996 bis 1999 veranstaltet hat, für Publikum wie Forschung gleichermaßen zugänglich. Sein Werk wird zudem von der 2014 vom Autor begründeten Siegfried Lenz Stiftung betreut. Die Stiftung ist gemeinnützig und vergibt alle zwei Jahre den nach Lenz benannten Literaturpreis, der mit 50.000 Euro dotiert ist. Nach Siegfried Lenz sind Schulen benannt, etwa in Handewitt und Jarplund (beide in Schleswig-Holstein), außerdem tragen mehrere Straßen seinen Namen, beispielsweise in Cloppenburg und Lastrup (beide in Niedersachsen).

1.9.2021 Kai U. Jürgens

ANMERKUNGEN

1 Johannes G. Pankau & Alexander Schüller: Lenz, Siegfried. In: Killy-Literaturlexikon, hg. v. Wilhelm Kühlmann, Bd. 7, Berlin 2010, S. 341–345; hier: S. 341.
2 Ebd.
3 Karsten Kruschel: Lenz, Siegfried. In: Deutsches Literatur-Lexikon. Das 20. Jahrhundert, hg. v. Lutz Hagestedt, Bd. 36, Berlin/Boston 2021, S. 274–304, hier: S. 274.
4 https://www.bargteheide.de/Bildung-Freizeit/Sehensw%C3%BCrdigkeiten/Ehemaliger-Wohnsitz-von-Siegfried-Lenz.php?object=tx,2971.7444.1&NavID=2971.50&La=1.
5 Michael Stitz & Klarsten Sörensen: Trauung unter Tränen. Im Alter von 84 Jahren hat Siegfried Lenz ein zweites Mal geheiratet. In: shz.de, 13. Juni 2010.
6  Killy-Literaturlexikon, wie Anm. 1, S. 342.
7 „Literatur ist Weltzeugnis“. Siegfried Lenz im Gespräch mit Ulrich Wickert. Die Welt, 5. März 2011.
 8 Killy-Literaturlexikon, wie Anm. 1, S. 342.
 9 Siegfried Lenz: Elfenbeinturm und Barrikade. Schriftsteller zwischen Literatur und Politik (1976). In: ders., Essays 2. 1970–1997. Werkausgabe in Einzelbänden, Bd. 20. Hamburg 1999, S. 9–41, hier: S. 12.
10  Killy-Literaturlexikon, wie Anm. 1, S. 342.
 11 Ebd.
12 Karl Korn: Rezension Siegfried Lenz: Es waren Habichte in der Luft. In: FAZ, 21. April 1951.
13 Peter Laemmle: Deutschstunde. In: Kindlers neues Literaturlexikon, hg. v. Walter Jens, Bd. 10, München 1990, S. 218–219, hier: S. 219.
14 Peter Laemmle: Deutschstunde. In: Kindlers Literatur-Lexikon, hg. v. Ludwig Arnold, Bd. 9, Stuttgart 2009, S. 816.
15 Killy-Literaturlexikon, wie Anm. 1, S. 343.
16 Franz Adam: Heimatmuseum. In: In: Kindlers Literatur-Lexikon, hg. v. Ludwig Arnold, Bd. 9, Stuttgart 2009, S. 816–817, hier: S. 817.
17 Siegfried Lenz: Mein Vorbild Hemingway. Modell oder Provokation (1960). In: ders., Essays 1. 1955–1982. Werkausgabe in Einzelbänden, Bd. 19. Hamburg 1997, S. 63–81.
 18 Manfred Kluge: So zärtlich war Suleyken. Masurische Geschichten. In: Kindlers Literatur-Lexikon, hg. v. Ludwig Arnold, Bd. 9, Stuttgart 2009, S. 815–816, hier: S. 815f.
 19 Siegfried Lenz im Gespräch mit Uwe Herms. Zit. n. Erich Maletzke: Siegfried Lenz. Eine biographische Annäherung. Springe 2006, S. 178.
20 Laudatio auf Siegfried Lenz. In: https://www.schleswig-holstein.de/DE/LandLeute/Menschen/_documents/Ehrenbuerger.html