Joachim Meyerhoff
Meyerhoff, Joachim Phillip Maria
Schauspieler und autobiographischer Autor
Geboren in Homburg (Saar) am 18. Juli 1967
Lebt in Berlin
Fast könnte man meinen, der gefeierte Schauspieler und Autor Joachim Meyerhoff habe keine sonderlich ausgeprägten - geschweige denn guten - Erinnerungen an den Ort seiner Kindheits- und Jugendjahre: wiederholt bezeichnet er ihn als die „norddeutsche Kleinstadt, in der ich nicht geboren, aber aufgewachsen bin“#1 oder, noch knapper, als „diese Stadt, in der ich nicht geboren, aber aufgewachsen bin“.#2 Beim näheren Hinsehen bzw. Hineinlesen in sein mittlerweile (Stand: Juni 2021) fünfbändiges autobiographisches Romanwerk #3 erkennt man jedoch hinter der sachlichen Distanziertheit, die Meyerhoff der norddeutschen Kleinstadt Schleswig entgegenbringt, eine tiefsitzende nostalgische Wehmut.
Diese Stadt, in der ich nicht geboren, aber aufgewachsen bin, lag gleich hinter der Anstaltsmauer und war wesentlich unübersichtlicher als das ordentlich durchbuchstabierte Psychiatriegelände. Lange hatte ich geglaubt, die meterhohe rote Backsteinmauer sei ein Schutz, eine Festungsmauer gegen Eindringlinge. Mir hatte dieser Wall immer ein sicheres Gefühl gegeben. […] Um mich herum das Kinderzimmer, darum das Haus, darum der Garten mit seinem Zaun und um ihn herum die Psychiatrie mit der Mauer. Die Heimatstadt gehörte schon nicht mehr dazu. Noch im Alter von zehn Jahren nannte ich im Ferienlager auf die Frage nach meiner Herkunft nicht den Namen der Stadt, sondern den der Psychiatrie: „Wo wohnst du?“ „In Kiel.“ „Und du?“ „In Lübeck.“ „Und du?“ „Im Hesterberg.“ „Im Hesterberg? Das ist doch die Irrenanstalt!“ „Ich bin da zu Hause und man sagt: Psychiatrie.“
Als Joachim Meyerhoff gerade einmal drei Jahre alt ist, erhält sein Vater, der hoch angesehene Psychiater Hermann Maria Meyerhoff, die Stelle als Direktor des Landeskrankenhauses für Kinder- und Jugendpsychiatrie Schleswig-Hesterberg. Dem kleinen „Jocki“ wird das Anstaltsgelände zum eigenen kleinen Königreich, durch dessen Straßen er „wie ein Infant“ flaniert. #4
Aber ganz so weltentrückt, wie es scheinen mag, ist der Direktorensohn dann doch nicht, und so weiß Meyerhoff auch noch in der Rückschau lebendig von den Dingen zu berichten, die die „norddeutsche Kleinstadt vor den Toren der Anstalt […] sehens-, ja, sogar besuchenswert“#5 erscheinen lassen: der Dom, der Bordesholmer Altar, Schloss Gottorf, die Schlei und nicht zuletzt die Wikingertage:
Da kann man dann Optiker in Fellen sehen, Lehrer, die aus selbstgezimmerten, untergehenden Wikingerschiffen gerettet werden müssen, Schuhverkäuferinnen, die mit großen gebogenen Nadeln Lederlappen zu unförmigen Stiefeln vernähen, oder auch Restaurantbesitzer, die mit behörnten Helmen in historisch nachgebauten Öfen Gerichte schmoren und zähe Fladen backen. […] Obwohl laut Werbung das Hauptanliegen der Wikingertage der Versuch ist, den Wikinger von seinem schlechten Image als Grobian zu befreien und die Wikingerkultur als eine Hochkultur zu rehabilitieren, endet jeder einzelne der Wikingertage mit einem schrecklichen Besäufnis. Völlig mit sich und ihrer Wikingervergangenheit im Einklang, betrinkt sich die halbe Stadt in Lederzelten mit Met, dem hochprozentigen Wikingerbier, und die Krankenwagen fahren bis in die Morgenstunden bewusstlose Männer und Frauen in Fellen ins Krankenhaus.
Die Jahre vergehen, und als sich Mitte der 1980er Jahre dem nun Volljährigen die Aussicht bietet, dem norddeutschen Kleinstadtalltag ein ganzes Austauschjahr lang nach Amerika zu entfliehen, fasst er die Gelegenheit beim Schopf und besteigt hoffnungsfroh den Bummelzug, um in Hamburg an einem Auswahlverfahren teilzunehmen.
Nach einer guten halben Stunde Fahrzeit kam ich nach Rendsburg. Nach Verlassen des Bahnhofs macht der Zug eine sehr elegante Kurve, schraubt sich in einer weiten Schleife auf eine Höhe von zweiundvierzig Metern und überquert auf der in Schleswig-Holstein durchaus als Topsehenswürdigkeit einzustufenden Rendsburger Hochbrücke den Nord-Ostsee-Kanal, der früher Kaiser-Wilhelm-Kanal hieß und die Ostsee mit der Nordsee verbindet. […] Von dieser Brücke aus hat man einen herrlichen Blick über das weite Land. Man sieht den Möwen auf den Rücken und, wenn man Glück hat, eines der mächtigen Schiffe, die auf diesem künstlichen Fluss vollkommen deplatziert wirken. Kaum ein norddeutscher Kalender verzichtet auf die optische Merkwürdigkeit, einen Ozeanriesen durch die Rapsfelder fahren zu lassen.
Während seines Aufenthaltes in Laramie, Wyoming, stirbt daheim sein mittlerer Bruder bei einem Unfall, für den abwesenden Joachim ein traumatischer Schicksalsschlag.
Nach seiner Heimkehr nach Schleswig dauert es nicht lang, bis er sich erneut vom Elternhaus inmitten des Anstaltsgeländes verabschiedet, dieses Mal jedoch dauerhaft: die Schauspielschule in München ruft. Aber das ist dann ein anderer Roman.
28.5.2021Jens Raschke
ANMERKUNGEN
1 Joachim Meyerhoff: Alle Toten fliegen hoch. Teil 1: Amerika. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011, S. 7.
2 Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war. Alle Toten fliegen hoch. Teil 2. Köln 2013 (6. Auflage 2015), S. 35.
3 Zumindest ein Teil der Romane basiert auf dem sechsteiligen Zyklus „Alle Toten fliegen hoch“, Theatersolos, die Meyerhoff zwischen 2007 und 2009 am Wiener Burgtheater herausgebracht hat.
4 Joachim Meyerhoff: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war. Alle Toten fliegen hoch. Teil 2. Köln 2013 (6. Auflage 2015), S. 36.
5 Ebd., S. 37.
Veranstaltungen
Keine Veranstaltungen vorhanden
ORTE
WERKE
• Alle Toten fliegen hoch 1: Amerika. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2011.
• Alle Toten fliegen hoch 2: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2013.
• Alle Toten fliegen hoch 3: Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2015.
• Alle Toten fliegen hoch 4: Die Zweisamkeit der Einzelgänger. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017.
• Alle Toten fliegen hoch 5: Hamster im hinteren Stromgebiet. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2020.