Johannes Stricker

Stricker, Johannes (auch: Johannes Stricerius)

Pastor und kämpferischer Autor des Düdeschen Schlömers

Geboren in Grube um 1540
Gestorben in Lübeck am 23. Januar 1599

Das 16. Jahrhundert ist uns als literarische Epoche recht fern, und es fällt schwer, sich das literarische Leben dieser Zeit vorzustellen. Im Fall von Johannes Stricker gibt es jedoch zumindest einen recht handgreiflichen Anhaltspunkt: Das Haus, in dem er in seiner Zeit als Pfarrer von Grube (Ostholstein) von 1572 bis 1584 gelebt hat, existiert noch und kann besichtigt werden. Das älteste datierte Bauernhaus Schleswig-Holsteins steht allerdings nicht mehr am ursprünglichen Ort, sondern ist Teil des Freilichtmuseums in Molfsee bei Kiel – wer will, kann hier sogar heiraten. Der in Grube geborene Stricker bezog das Gebäude, nachdem er die Pfarrstelle von seinem Bruder übernommen hatte. Hier schrieb er sein bedeutendstes Werk, das allerdings auch dazu führte, dass er Grube verlassen musste: De düdesche Schlömer, das „bedeutendste niederdeutsche Drama des 16. Jahrhunderts“ (Horst Joachim Frank) #1 oder in den (vielleicht nicht ganz unparteiischen) Worten des Stricker-Experten Johannes Bolte gar „das bedeutendste Drama der nd. Litteratur.“ #2

Wir wissen nicht genau, wann Stricker geboren wurde, aber fest steht, dass seine Familie eng mit der lutherischen Konfession verbunden war: Sein Vater war zunächst katholischer, dann evangelischer Pfarrer in Grube und gehörte nach seiner Konversion zur ersten Generation der Anhänger des neuen Glaubens. Er war in der Lage, seinen Sohn auf das Katharineum nach Lübeck und anschließend zum Studium nach Wittenberg zu schicken, sodass eine theologische Karriere für Stricker vorprogrammiert war. Schon 1561, also in sehr jungen Jahren, wurde er Hausgeistlicher des Amtmanns in Cismar. Hier blieb er über zehn Jahre, bevor er, wie erwähnt, Pastor in seiner Geburtsstadt wurde, und hier entstand auch sein erstes gedrucktes Werk, ein niederdeutsches Spiel über Adam und Eva sowie ihre Söhne Kain und Abel. Es ist heute nur in einer später erfolgten hochdeutschen Übersetzung erhalten und war vor allem für den Schulunterricht gedacht. Entsprechend belehrend ist das gereimte Stück angelegt:

Und das kein Mensch ohn Sünde sey/
Könn auch durch nichtes werden frey/
Allein durch Gottes Barmhertzigkeit/
Die vns durch Christi Todt bereit/
Lehrt vns rein/ hell vnd klar dis Spiel [...].

Ein Geistlich Spiel/ von dem erbermlichen Falle Adams und Even / Allen frommen Christen/ und insonderheit der lieben Jugend zu gut und besten gestellet: Durch den Ehrwirdigen Herrn Johann: Stricken/ Pastorn des Closters Cismar. O.O. 1602, S. 12.

Ob Stricker in seiner Cismarer Zeit weitere Spiele geschrieben und zur Aufführung gebracht hat, ist unbekannt. Das einzige weitere überlieferte Stück stammt bereits aus Grube und ist der bereits erwähnte düdesche Schlömer (deutsche Schlemmer); mit ihm geht der Autor in die Literaturgeschichte ein. Das Stück erinnert aus heutiger Perspektive an Hugo von Hofmannsthals berühmtes Jedermann-Stück – in der Tat gehen beide auf eine spätmittelalterliche Motivtradition zurück, die Stricker aus deutschen und niederländischen Texten kannte. Den typischen Aufbau – ein unmoralischer Sünder muss angesichts des eigenen Todes feststellen, dass sein trotz aller Warnungen geführter verderblicher Lebenswandel zur Verdammnis führt – hat er also nicht erfunden, wohl aber recht selbständig bearbeitet, mit Geschick ausgestaltet und für das Niederdeutsche erschlossen – eine hochdeutsche Übersetzung erschien schon wenige Jahre nach dem Erstdruck von 1584, was auf den Erfolg des Werks hindeutet.

Wie das Stück von Adam und Eva ist auch der Schlömer sehr direkt, was seine Wirkungsabsicht angeht. Schon im Prolog wird deutlich herausgestellt, dass es bei den folgenden Darstellungen des Schlemmers alleine darum geht, die Zuschauer*Innen abzuschrecken und von der Notwendigkeit eines gottgefälligen Lebens zu überzeugen:

Denn wat wy werden inuören,
Geschüt nicht vth lichtferdicheit,
So men vnse mening recht vorsteith:
De allene darhen gesteldt,
Tho warnen de Godtlose Weldt,
De in Sünden värt seker vort,
Vnd vorachtet Gads dürbar Wordt.
Alse hyr disse Schlömer stolt,
Mit Sünden befleckt mennichfoldt.
Darin affgemalet werden,
Alle seker Minschen vp Erden,
De na supen, wollust vnd pracht,
Jümmer dohn trachten Dach vnd Nacht.
Dat doch de Gödtlick Mayestät,
By ewiger straff vorbaden hat.

De düdesche Schlömer. Ein niederdeutsches Drama von Johannes Stricker. Herausgegeben von Johannes Bolte. Norden, Leipzig: Soltau 1889, S. 15.

Dass die Exzesse des Schlemmers in allerlei Detail geschildert werden, gehört also zum theologischen Konzept, macht das Stück aber auch auf gefährliche Weise attraktiv – dass es im 20. Jahrhundert mehrfach ins moderne Niederdeutsch übertragen wurde und auch heute noch gelegentlich aufgeführt wird, hat sicherlich auch mit der unverblümten und unterhaltsamen Schilderung des Lasters zu tun. Der Schlemmer lässt sich nicht nur selten in der Kirche blicken („Der Orgel gschrey vnd Schöler sanck, / Is my neen angenemer klanck“ #3), er ist auch dem Alkohol alles andere als abgeneigt und streitet sich mit seiner Frau, die er überdies mit einer anderen verheirateten Frau betrügt. All das wird von Stricker recht drastisch dargestellt, bevor die Figur eines Predigers, in der er sich selbst porträtiert haben mag, den Verirrten wieder auf den richtigen gottesfürchtigen Weg zurückbringt. Ein ausführlicher Epilog deutet das Vorgefallene ein weiteres Mal aus, bevor die Zuschauer*Innen entlassen werden:

Dith Spill dat hefft also ein end:
Wem dat guallen, klop in de Hend.

De düdesche Schlömer. Ein niederdeutsches Drama von Johannes Stricker. Herausgegeben von Johannes Bolte. Norden, Leipzig: Soltau 1889, S. 221.

Sicherlich war Stricker schon beim Verfassen des Schlömers bewusst, dass sein Stück nicht allen „guallen“ (gefallen) würde: Bei der Schilderung des in der ersten Hälfte des Dramas vorherrschenden Lasters hatte er ganz konkret den schleswig-holsteinischen Adel im Sinn, der sich seiner Meinung nach in dieser gottlosen Weise benahm. Die Nachricht wurde vom Adel durchaus verstanden (zumal Stricker sich schon zuvor in Predigten ähnlich geäußert hatte), und die Antwort erfolgte sofort:

Stricker hatte, wußte noch zwei Menschalter später der Chronist Starcke zu berichten, die Herren so hefftig erzürnet und ihre Verfolgung dergestalt wider sich erwecket, daß sie auch ihn todt zu schiessen untereinander sich beredet. Wir wissen nicht mehr, wer das Attentat ausführte. Es muß irgendwo im Freien in einer sumpfigen Gegend und vielleicht bei Dunkelheit geschehen sein. Der Schuß, mit dem der unliebsame Kritiker beseitigt werden sollte, ging daneben und tötete nur seinen kleinen Hund, welchen er bey sich gehabt.

Horst Joachim Frank: Literatur in Schleswig-Holstein. Von den Anfängen bis 1700. Neumünster: Wachholtz 1995, S. 180.

Stricker flüchtete nach Lübeck, wo er Verbündete in seinem Kampf gegen die Unmoral des Adels hatte und schon bald zum Prediger an der Burgkirche ernannt wurde. In den 15 Jahren, die er noch in Lübeck wirkte, hat er an einer niederdeutschen Version des lutherischen Katechismus gearbeitet, die aber nicht erhalten ist. Sein Schlömer hat jedoch die Zeiten überdauert und ist insbesondere nach dem Erfolg des Jedermann immer wieder neu bearbeitet und aufgeführt worden. Zu den modernen Aufführungsorten des Stücks gehört auch die Klosterkirche in Cismar – nur wenige Kilometer vom Entstehungsort entfernt.

8.6.2022 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Horst Joachim Frank: Literatur in Schleswig-Holstein. Von den Anfängen bis 1700. Neumünster: Wachholtz 1995, S. 181. Frank bietet in seiner Literaturgeschichte ein vorzügliches und detailgesättigtes Kapitel zu Stricker (S. 160-184), dem diese Kurzdarstellung dankend verpflichtet ist.

2 Johannes Bolte: Einleitung. In: De düdesche Schlömer. Ein niederdeutsches Drama von Johannes Stricker. Herausgegeben von Johannes Bolte. Norden, Leipzig: Soltau 1889, S. [58].

3 De düdesche Schlömer. Ein niederdeutsches Drama von Johannes Stricker. Herausgegeben von Johannes Bolte. Norden, Leipzig: Soltau 1889, S. 28.