Karl Müllenhoff

Müllenhoff, Karl Victor

Philologe und Dichterfreund

Geboren in Marne am 9. September 1818
Gestorben in Berlin am 19. Februar 1884

Wenn überhaupt, ist Karl Müllenhoff heute als Literaturwissenschaftler geläufig. Zusammen mit Karl Lachmann, Wilhelm Scherer und anderen ist er Teil einer wichtigen Generation von Philologen des 19. Jahrhunderts: auf Abbildungen meist grimmig dreinblickende Professoren, die von der Berliner Universität aus der Literaturwissenschaft methodische Strenge beibrachten und einen erbitterten Kampf gegen germanistische „Amateure“ führten. Dass sich der Kieler Karl-Müllenhoff-Weg im sogenannten Dichterviertel direkt bei der Ringelnatz- und der Ottomar-Enking-Straße befindet, deutet jedoch zumindest darauf hin, dass auch der Namensgeber eine gewisse Nähe zur Dichtung hat. In der Tat war Müllenhoff zwar kein Poet oder Schriftsteller (und wäre wohl beleidigt gewesen, wenn man ihn als solchen bezeichnet hätte), aber seine Sammlung von Märchen und Sagen und seine Zusammenarbeit mit Klaus Groth machen ihn zu einem wichtigen Bündnispartner der Literatur mit Anspruch auf einen eigenen Platz im Literaturland.

Karl Victor Müllenhoff wurde am 8. September 1818 in Marne (Dithmarschen) in eine Kaufmannsfamilie geboren und besuchte in Meldorf die Gelehrtenschule. Der Ort hinterließ offenbar auch wegen seiner literarischen Geschichte bleibenden Eindruck auf ihn:

„Wo in aller Welt“ rief M. nach vielen Jahren einmal aus, „wäre ein Ort, wo Erinnerungen wie die an Niebuhr, Voß und Boie den Sinn auf Alterthum und Gegenwart zugleich wach hielten, und wo zugleich aus der eigenen Vergangenheit des Landes dem jugendlichen Gemüth ein so frischer Hauch entgegenwehte?“

1837 begann Müllenhoff in Kiel ein Studium der Philologie, das er in Leipzig fortsetzte und schließlich in Berlin beendete. Zur 1842 abgeschlossenen Promotion kehrte er nach Kiel an die Christian-Albrechts-Universität zurück. Bevor seine wissenschaftliche Karriere dort begann, war er kurz Hilfslehrer in Meldorf; 1846 wurde er außerordentlicher und 1852 ordentlicher Professor in Kiel.

In diese Zeit fällt auch die Veröffentlichung seiner umfang- und erfolgreichen Sammlung schleswig-holsteinischer Sagen und Märchen, die er gemeinsam mit zwei weiteren literarischen Größen Schleswig-Holsteins konzipiert und zusammengetragen hatte: Während Müllenhoff in seiner Heimatregion Dithmarschen tätig war, hatten Theodor Mommsen und Theodor Storm unabhängig davon eine eigene Sammlung von Sagen angefertigt (und Teile davon bereits 1842 veröffentlicht). Die drei taten sich zusammen, auch wenn Mommsen und Storm später ausschieden und Müllenhoff der alleinige Herausgeber des 1845 erschienenen Buches blieb. Die Motivation dafür, die mündlichen Überlieferungen der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg zusammenzutragen, ist einerseits wissenschaftlicher Art: Die Sagen dienen Müllenhoff dazu, eine großangelegte Geschichte der Volkspoesie zu entwerfen und ganz im Sinne der Brüder Grimm „das verschwindende Bild des alten Volkslebens […] zu vervollständigen“. #1 Andererseits will er auch außerhalb des Elfenbeinturms der Wissenschaft wirksam sein und richtet sich gezielt an die Schleswig-Holsteiner*Innen: „Dies Buch sollte zunächst ein Buch für unser Land sein“. #2 Die Sammlung ist damit in Zeiten der dänischen Herrschaft über die Herzogtümer ein eminent politisches Projekt, was Müllenhoff aber nicht zur Deutschtümelei verleitet: Die Sammlung enthält auch dänische und nordfriesische Stoffe, und der Herausgeber findet es „lehrreich den Übergang und die Berührung zweier Nationalitäten auch in den Sagen zu verfolgen.“ #3

Ansonsten zeigt sich Müllenhoff in der Märchensammlung als typischer Philologe seiner Zeit, indem er die Gegenwartsliteratur und überhaupt die Gegenwart strikt ablehnt: Seit dem 16. Jahrhundert sieht er „die schöpferische Fähigkeit des Volkes dahin schwinden“, #4 und der Volksgeist, um den es ihm geht, kann dementsprechend nur noch in Relikten, eben den Sagen, erhalten sein. Damit stellt er sich mit seinem Projekt gegen die moderne bürgerliche Gesellschaft:

Was uns dennoch gerettet ist, das haben die Armen, die Alten und die Kinder gerettet […]. Denn die größere Masse des Volkes wandte, überklug geworden, auch der alten Sitte und der alten Poesie den Rücken und gab sich willig der flachen, schalen Prosa des städtischen Lebens hin.

Karl Müllenhoff: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Sagen Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig Holstein und Lauenburg. Kiel: Schwers 1845, S. XLI.

Das gilt auch und besonders für moderne literarische Bearbeitungen von volkstümlichen Stoffen: Solchen „armseligen Plunder“ #5 lehnt Müllenhoff ab, und sein Widerwille erstreckt sich auch auf die Gegenwartssprache, besonders das moderne Niederdeutsche, dem er „formelle Unfähigkeit“ attestiert. #6

Vor diesem Hintergrund mag es überraschen, dass ausgerechnet Müllenhoff, der strenge und zuweilen grantige Professor mit so viel Verachtung für die Sprache und Literatur der Gegenwart, kurz nach Erscheinen seiner Märchensammlung zum Freund und Komplizen eines modernen Schriftstellers avanciert: ein „sorgsamer philologischer Genoß eines Dichters“, wie sein Schüler Wilhelm Scherer in seiner Müllenhoff-Biografie schreibt. #7 1852 tritt der noch recht unbekannte Klaus Groth, der gerade die erste Auflage seines Quickborn veröffentlicht hatte, mit der Bitte um eine Rezension an Müllenhoff heran. Dieser liefert tatsächlich den gewünschten Text, und es entsteht eine intensive Freundschaft zwischen dem Dichter und dem Germanisten, die dazu führt, dass die folgenden Bücher Groths und die häufigen Neuauflagen des Quickborn mehr und mehr zu einem Gemeinschaftswerk der beiden werden. Müllenhoff berät Groth nicht nur linguistisch, was die niederdeutsche Sprache angeht, sondern greift auch in das eigentliche Werk ein, indem er beispielsweise Gedichte in Auftrag gibt oder bei den vorliegenden Texten Wörter austauscht und Verse umstellt. #8 Dass der Dichter solche Eingriffe duldsam hinnimmt, spricht für die Intensität der Freundschaft, die erst endet, als Groth seinerseits in das Gebiet der Wissenschaft drängt: Müllenhoff wird 1859 nach Berlin berufen, und Groth, der drei Jahre zuvor einen Ehrendoktortitel der Universität Bonn erhalten hatte, bemüht sich trotz insgesamt eher mangelnder akademischer Qualifikation um seine Nachfolge in Kiel, was zum Bruch zwischen den beiden führt. Dennoch ist ihre zuvor betriebene dichterisch-philologische Zusammenarbeit bemerkenswert und wird von beiden wiederholt hervorgehoben. Groth entwirft in seinem Sonett An Karl Müllenhoff ein Bild des harmonischen Einverständnisses, in dem der Wissenschaftler als einfühlsamer Förderer erscheint, der allein in der Lage ist, den ansonsten unverstandenen Dichter und sein Werk (den im vorletzten Vers mit „ihn“ gemeinten Quickborn) zu würdigen:

Wie ein elender Mann in fremden Landen,
Da man nicht red’t mit trauter deutscher Zungen,
So saß ich einsam, wie in Dämmerungen
Des Grabes, stumm, nur von mir selbst verstanden.

[…]

Du sahst im hellen Grund dies dunkle Sehnen,
Erkanntest ihn und mich, und deine Güte
Ward mir der erste Stab, mich anzulehnen.

Klaus Groth: An Karl Müllenhoff. In: Klaus Groth’s Gesammelte Werke. Bd. 4: Plattdeutsche Erzählungen. Hochdeutsche Gedichte. Kiel, Leipzig: Lipsius & Tischer 1893, S. 274f.

Umgekehrt scheint Müllenhoff Groth als eine Art Geistesverwandten gesehen zu haben, der dem selbst dichterisch unbegabten Wissenschaftler dabei half, den poetischen Teil seines Charakters zu erschließen:

Er hat mir in der Poesie [...] etwas erfüllt was ich geahnt, gewünscht, gehofft, aber kaum erwartet habe. Wäre ich selbst Dichter gewesen, würde ich ähnliches erstrebt haben; er hat mir einen Theil meines Wesens erfüllt und geschenkt, den ich nicht besaß, aber ersehnte.

Brief von Karl Müllenhoff an Wilhelm Heinrich Kolster vom 31. Dezember 1856. In: M[oritz] Liepmann (Hrsg.): Von Kieler Professoren. Briefe aus drei Jahrhunderten zur Geschichte der Universität Kiel. Stuttgart, Berlin: DVA 1916, S. 313.

In Berlin stieg Müllenhoff rasch zum einflussreichen, gut vernetzten Intellektuellen auf; 1864 wurde er in die Preußische Akademie der Wissenschaften gewählt. Sein Hauptwerk, die Deutsche Alterthumskunde, blieb jedoch unvollendet, und nur der erste Band sowie die erste Hälfte des fünften Bandes erschienen:

Die schwere Gründlichkeit seiner Natur ließ ihn bei der Alterthumskunde nicht aus der Stelle kommen. Sie zwang ihm eine solche Vertiefung in die Einzelheiten auf, daß das Ganze, das seinem Geiste vorschwebte, überhaupt nicht zu Tage trat.

Am 19. Februar 1884 verstarb Müllenhoff nach langer Krankheit in Berlin. Neben dem bereits erwähnten Weg in Kiel sind in Berlin-Kreuzberg, in Hamburg (ebenfalls in einem „Dichterviertel“) sowie in seiner Geburtsstadt Marne Straßen nach ihm benannt.

19.10.2022 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Karl Müllenhoff: Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Sagen Märchen und Lieder der Herzogthümer Schleswig Holstein und Lauenburg. Kiel: Schwers 1845, S. LIV.

2 Ebd., S. V.

3 Ebd.

4 Ebd., S. XXXIX.

5 Ebd., S. VI.

6 Ebd., S. VII.

7 Wilhelm Scherer: Karl Müllenhoff. Ein Lebensbild. Berlin: Weidmann 1896, S. 84.

8 Vgl. dazu ausführlicher Jan Behrs: Der Dichter und sein Denker. Wechselwirkungen zwischen Literatur und Literaturwissenschaft in Realismus und Expressionismus. Stuttgart: Hirzel 2013, S. 47 ff.