Franz Josef Degenhardt

Degenhardt, Franz Josef. Pseudonym: Karratsch

Liedermacher und Romanautor mit Herz für die „Schmuddelkinder“

Geboren in Schwelm am 03. Dezember 1931
Gestorben in Quickborn am 14. November 2011

Auch wenn er heute hauptsächlich als Liedermacher bekannt ist, war Franz Josef Degenhardt nicht nur das, sondern auch politischer Aktivist, Jurist und nicht zuletzt ein produktiver und erfolgreicher Prosaautor, der viele Jahre in Schleswig-Holstein lebte. Geboren am Rand des Ruhrgebiets, studierte er in Köln und Freiburg Jura. 1960 ging er an die Universität des Saarlandes in Saarbrücken und promovierte dort 1966. In diese Zeit fallen auch seine ersten musikalischen Gehversuche – laut Eigenauskunft vor allem deswegen, weil sich kein Verlag für seine Gedichte finden ließ. #1 Seit 1964 trat er auf den Festivals auf Burg Waldeck auf und war damit an der Geburt der deutschsprachigen Folk-Musik maßgeblich beteiligt. Erste Plattenaufnahmen folgten, darunter das Album Spiel nicht mit den Schmuddelkindern mit dem populären und schnell sprichwörtlich gewordenen Titelsong. Wie sein Freund Hannes Wader bezeugt, war Degenhardt ein Pionier einer neuen Art von deutschsprachiger Popmusik und hinterließ dementsprechend eine tiefe Wirkung:

1964 dachte ich doch tatsächlich, in der Bundesrepublik der einzige zu sein, der selbst geschriebene Lieder […] zur Gitarre sang; durchaus verständlich, wenn man bedenkt, dass es damals den Begriff Liedermacher noch gar nicht gab, und eine entsprechende Szene, die sich im heutigen Sinne hätte vernetzten können, erst in Ansätzen vorhanden war. Dann hörte ich zufällig im Radio Franz Josef Degenhardt, den ich bis dahin nicht kannte. […] Für mich ein coup de foudre. Ich war beglückt festzustellen, dass ich mit meiner Leidenschaft, mich in selbst verfassten Liedern auszudrücken, kein isolierter Spinner war.

Dass Degenhardt und Co. in den 1960ern eine neue Tradition begründen mussten und nicht einfach auf die volkstümliche Überlieferung zurückgreifen konnten wie Folk-Musiker*Innen in anderen Ländern, erklärt er selbst in seinem Song Die alten Lieder mit der deutschen Geschichte, die nach 1945 einen Traditionsabbruch erforderte:

Tot sind unsre Lieder,
unsre alten Lieder.
Lehrer haben sie zerbissen,
Kurzbehoste sie verklampft,
braune Horden totgeschrien,
Stiefel in den Dreck gestampft

Franz Josef Degenhardt: Die alten Lieder. Aus dem Album „Wenn der Senator erzählt …“. Polydor, 1968.

Während die Musikerkarriere durchstartete, machte sich Degenhardt gleichzeitig einen Namen als engagierter Jurist, der linke Aktivisten gegen staatliche Repression verteidigte. 1969 gründete er in Hamburg eine Anwaltskanzlei, brachte aber weiterhin in schneller Folge neue Alben heraus – über 30 sollten es insgesamt werden. Dazu kamen nicht weniger als neun Romane, von denen insbesondere der erste sehr erfolgreich war: Zündschnüre, eine zuerst 1973 erschienene autobiografisch geprägte Schilderung der Schwelmer Jugendjahre, wurde etliche Male neu aufgelegt, in mehrere Sprachen übersetzt und 1974 vom WDR verfilmt.

Als Liedermacher und Romanautor ist Degenhardt immer wieder auf einige Themen zurückgekommen, die ihm wichtig waren: Von Anfang an geht es in seinen Texten um eine Kritik des bürgerlichen Milieus, dem eine liebevoll und emphatisch beschriebene Gegenwelt aus Proletariern, Außenseitern und Unangepassten gegenübersteht – Oberstadt gegen Unterstadt, um die Begrifflichkeit des Schmuddelkinder-Songs zu benutzen. Der unaufgeräumten Welt der Ausgestoßenen gilt Degenhardts Sympathie, und immer wieder besingt er (reale oder erfundene) Personen, die aus verschiedenen Gründen nicht dazugehören wollen oder können: Den Gastarbeiter „Tonio Schiavo“, den desertierten amerikanischen Soldaten „P.T. aus Arizona“ oder den einfachen Arbeiter und Kommunisten „Rudi Schulte“. Über letzteren heißt es programmatisch:

Über den da hat noch keiner was geschrieben,
weil so richtig große Taten hat der nie vollbracht.
[…]
Doch gelesen hat er viel – was seine Klasse anbetrifft.
Aber Zeit für Kultiviertes hatte er nun leider nicht.

Franz Josef Degenhardt: Rudi Schulte. Aus dem Album „Die Wallfahrt zum Big Zeppelin“. Polydor, 1971.

In diesem Song aus den 1970er Jahren klingt auch schon Degenhardts politische Radikalisierung an: 1971 wurde er aus der SPD ausgeschlossen, nachdem er in Schleswig-Holstein zur Wahl der DKP aufgerufen hatte. 1978 wurde er dann DKP-Mitglied und blieb das auch, nachdem die Partei infolge der deutschen Wiedervereinigung einen erheblichen Mitgliederschwund zu verzeichnen hatte. „Ich bin sehr allergisch gegen Ein- und Austritte je nachdem, wie es kommt und wie der Zeitgeist es verlangt“, sagte er 1990 in einem Interview #2, und in der Tat ist er in seinen geäußerten politischen Überzeugungen zeitlebens äußerst konsequent gewesen und hat sich niemals nach dem Wind gedreht. Dass viele seine Weggenossinnen und -genossen das nach 1968 durchaus taten und ihren Frieden mit dem System machten, hat er in etlichen seiner Songs thematisiert, zum Beispiel im Wildledermantelmann von 1977: „[W]ie ist das Gefühl / wenn man so langsam, langsam, langsam driftet nach rechts?“ #3 Im Gegensatz zu solchen „Anpassungsgenies“ #4 schreckte Degenhardt auch vor radikalen klassenkämpferischen Statements nicht zurück, die geeignet waren, seine Fans zu verstören:

Auch die alten Kunden klagen,
wo bleibt Ihre Poesie?
Dinge bilderreich umschreiben,
andeuten, das können Sie.
Na schön, sag ich, das ist ja richtig,
aber das ist jetzt nicht wichtig.
Schöne Poesie ist Krampf
im Klassenkampf.

Franz Josef Degenhardt: Zwischentöne sind bloß Krampf. Aus dem Album „Degenhardt Live“. Polydor, 1968.

Diese berüchtigte Aussage aus dem Jahr 1968 hat Degenhardt später zurückgenommen. Sie war sowieso niemals völlig zutreffend, denn inmitten der politischen Agitation werden bei ihm immer wieder auch Momente des Innehaltens und der Lebensfreude beschrieben, die durchaus „schön“ und „poetisch“ sind:

Ja, euer Haus aus Ziegelsteinen ist sehr alt und schön das Dach aus Ried.
Eure Tomaten schmecken wirklich nach Tomaten, so, wie ihr sie zieht.
Nein, die Sonne, die auf unsren Händen mit dem Schatten spielt, ist nicht zu heiß.
Und ich spüre keine Angst und keine Kälte hier in eurem Kreis.

Franz Josef Degenhardt: Rondo Pastorale. Aus dem Album „Wildledermantelmann“. Polydor, 1977.

In seinem Romanen kartografiert Degenhardt die gleiche Welt, die auch seine Songs prägt, in größerer Ausführlichkeit. Immer wieder beschäftigt er sich mit den Konflikten, Widersprüchen und Idyllen seiner Generation, wenn etwa im Roman Brandstellen (1974) der Kampf einer Bürgerinitiative gegen einen NATO-Truppenübungsplatz beschrieben wird. Besonders aufschlussreich für sein Selbstverständnis als Künstler ist der Roman Der Liedermacher von 1982. Hier spaltet Degenhardt sich selbst gewissermaßen auf, indem er abwechselnd aus der Perspektive eines linken Liedermachers mit bürgerlichem Hintergrund und der von dessen proletarischen Roadie erzählt. Einen Sonderstatus in seinem Werk hat der historische Roman Der Mann aus Fallersleben, in dem Degenhardt das Leben von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben beschreibt. Er imaginiert ihn als großen Unangepassten, der insbesondere durch seine Lieder subversiv tätig wird. Dieser Hoffmann ist zu sehr ein Bürgerschreck, als dass ihm nationalistische Vereinnahmung etwas anhaben könnte, auch wenn der gegenwärtige Erzähler des Romans bekennt, dass ihm „jedes Mal ein Schauer über den Rücken läuft, wenn ich das Lied der Deutschen höre“. #5

Im Laufe seiner Karriere erhielt Degenhardt zahlreiche Auszeichnung, darunter 1970 den Deutschen Schallplattenpreis und 2001 den Kulturpreis des Kreises Pinneberg. 2011 ist er in seinem langjährigen Wohnort Quickborn verstorben.

26.04.2021Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 „Ich habe mit dem Literaturbetrieb nichts zu tun und leiste mir solche Unbekümmertheit.“ Gespräch mit Matthias Altenburg. In Matthias Altenburg: Fremde Mütter – fremde Väter – fremdes Land. Hamburg: Konkret 1985, S. 85.

2 Franz Josef Degenhardt: Interview mit dem NDR 1990. Verfügbar unter www.youtube.com/watch (letzter Aufruf 28. April 2021).

3 Franz Josef Degenhardt: Wildledermantelmann. Aus dem Album „Wildledermantelmann“. Polydor, 1977.

4 Franz Josef Degenhardt: Bodo, genannt der Rote. Aus dem Album „Mutter Mathilde“. Polydor, 1972.

5 Franz Josef Degenhardt: Der Mann aus Fallersleben. Roman. Berlin: Kulturmaschinen, S. 434.