Johann Hinrich Fehrs

Fehrs, Johann Hinrich

Chronist des holsteinischen Dorflebens

Geboren in Mühlenbarbek am 10. April 1838
Gestorben in Itzehoe am 17. August 1916

Johann Hinrich Fehrs, der auf hochdeutsch und niederdeutsch geschrieben hat, heute aber hauptsächlich für seine niederdeutschen Werke bekannt ist, wurde 1838 in Mühlenbarbek (bei Kellinghusen) geboren. Er selbst charakterisiert das Dorf zur Zeit seiner Geburt folgendermaßen:

Bahnen und Chausseen fehlten damals noch, den geringen Verkehr vermittelte die breite Landstraße, die von Itzehoe über Kellinghusen nach Bramstedt, Oldesloe auf Lübeck führte. So war die Heide ein halb vergessener Weltwinkel, der seine Sprache, Sitte und Art noch in unberührter Reinheit bewahrt hatte.

Johann Hinrich Fehrs: Johann Hinrich Fehrs [1906/07]. In: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Kay Dohnke und Jürgen Ruge. Bd. 4.1: Vermischte Schriften 1870-1916. Neumünster: Fehrs-Gilde/Wachholtz 1989, S. 210f.

Literarisch ist Fehrs Mühlenbarbek immer treu geblieben – es taucht in etlichen seiner Werke als „Ilenbeck“ auf, und die Gemeinde hat ihrem berühmtesten Sohn einen Gedenkstein hinterlassen, der die Übereinstimmung zwischen dem Ort und seinem literarischem Abbild kodifiziert:

Fast as Steen, stolt as de Eek, schall ståhn dien Nåm in Ilenbek.

Zitiert nach Dietmar Albrecht: Literaturreisen Schleswig-Holstein. Stuttgart/Dresden: Klett 1993, S. 47.

Fehrs selbst verbrachte nur seine Kindheit und Jugend in Mühlenbarbek, wo sein Vater nach einer gegen den Willen den Eltern geschlossenen unvorteilhaften Heirat eine kleine Kate gebaut hatte und dort mit seiner Frau und insgesamt 12 Kindern lebte. #1 Wie auf dem Land in dieser Zeit üblich, besuchte der junge Johann Hinrich nur im Winter die Schule, weil er im Sommer im Haus und auf dem Feld mithelfen musste. Er selbst schildert das als durchaus idyllisch und der eigenen Entwicklung zuträglich:

Ich hatte durchaus nichts einzuwenden, die kalten, kahlen Schulwände lockten mich nicht. Da war’s schöner im Freien! Die weite Feld- und Wiesenfläche, unterbrochen durch hohe Hecken und bebuschte Wege, durchzogen von blanken Gräben, umspannt vom blauen Gewölbe und von der allgütigen Sonne durchwärmt und mit Glanz und Leben erfüllt – wahrlich, dieser Himmelssaal mutete anders an! […] Ein gutes Geschick hatte mir einen kräftigen Körper und gesunde Sinne geschenkt, Sinne mit unlöschbarem Durst. Sie trugen der dämmernden Seele täglich tausend Entdeckungen zu und füllten sie mit wunderbaren Bildern.

Johann Hinrich Fehrs: Aus der Jugendzeit [1908]. In: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Kay Dohnke und Jürgen Ruge. Bd. 4.1: Vermischte Schriften 1870-1916. Neumünster: Fehrs-Gilde/Wachholtz 1989, S. 225.

Dass Fehrs trotz dieser Vorliebe für das Freie letzten Endes den größten Teil seines Lebens zwischen „kalten, kahlen Schulwänden“ verbracht hat, liegt an einem tragischen biografischen Zufall: Eigentlich wäre er lieber Förster oder Jäger geworden, aber nachdem sein ältester Bruder, der bereits als Lehrer arbeitete, als Soldat in der schleswig-holsteinischen Erhebung 1850 bei Friedrichstadt umkam, beschlossen die Eltern, dass die bereits vorhandene kleine Bibliothek nicht ungenutzt bleiben sollte, und Johann Hinrich, der bereits zuvor Interesse am Lesen gezeigt hatte, musste in die Fußstapfen des Bruders treten. Schon mit 17 wurde er Unterlehrer in Störkathen bei Kellinghusen, bevor er ab 1855 das Lehrerseminar in Altona besuchte. Aus der Großstadt, die dem „Präparanden“ laut Eigenauskunft nicht behagte, ging es 1859 auf das Schullehrer-Seminar in Eckernförde-Borby; danach trat Fehrs seine erste Stelle als Privatschullehrer in Reinfeld an, wo er sich mit dem Schriftstellerkollegen Joachim Mähl anfreundete. 1863 wurde er Waisenlehrer in Itzehoe, wo er sich – nach einer weiteren kurzen Station in Altona – 1865 endgültig niederließ. Im selben Jahr heiratete er und führte fortan zusammen mit seiner Frau eine private Mädchenschule. In einem Haus in der Breitenburger Str. 48 befanden sich nicht nur die Räumlichkeiten der Schule, sondern auch die Wohnung der Familie, die rasch um sieben Kinder anwuchs. Nach dem Tod seiner Frau 1899 wurde Fehrs der Schulbetrieb mit zeitweise bis zu 150 Schülerinnen zunehmend zu beschwerlich; 1903 bot er der Stadt Itzehoe die Übernahme der Schule an und zog nach erfolgter Pensionierung in ein Haus am Holzkamp 2. In Anerkennung seiner pädagogischen Leistungen bekam er von der Stadt ein Altersruhegehalt von 2400 Mark jährlich ausbezahlt, was ihm die Hinwendung zur Existenz als freier Schriftsteller sicher erleichterte. 1908 zog er abermals um und wohnte bis zu seinem Tod 1916 mitten im Zentrum Itzehoes am Klosterhof 5.

Auch wenn Fehrs heute hauptsächlich für seine niederdeutsche Prosa bekannt ist, war er als Schriftsteller vielfältig aktiv und begann seine Karriere mit hochdeutscher Versepik: Im 1871 erschienenen Langgedicht Krieg und Hütte verarbeitete er den Kriegstod seines Bruders und die schleswig-holsteinische Erhebung in recht konventionellen, zum Zeitpunkt des Erscheinens vielleicht schon altmodisch wirkenden Versen:

Bald kam die schlimme Post von Friedrichstadt,
Wie dort die Braven um die Stadt gerungen
Mit Löwenmut und dennoch nicht gesiegt.
Die Zeitung kam mit all den teuren Namen
Der Toten und Blessierten und Vermißten,
Und zitternd nahm der Alte sie zur Hand
Und suchte lange, bis ihm über die Schulter
Die Tochter zeigte: elftes Bataillon! –

Johann Hinrich Fehrs: Krieg und Hütte. Ein erzählendes Gedicht [1865]. In: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Kay Dohnke und Jürgen Ruge. Bd. 5: Lyrik 1865–1916. Neumünster: Fehrs-Gilde/Wachholtz 1993, S. 23.

Wie sich hier schon zeigt, geht es Fehrs von Anfang an eher um die Hütte der einfachen Bauern als um die weltpolitischen Umwälzungen des Krieges, sodass schon dieses frühe Werk als Bestandteil des Ilenbeck-Zyklus verstanden werden kann, wenngleich es sich formal so deutlich von seinen späteren Texten unterscheidet. Der erste niederdeutsche Prosatext aus Fehrs‘ Feder ist die 1877 erschienene Novelle Lüttj Hinnerk, die angeblich aufgrund einer Wette entsteht und aus dem Stand zu einem großen Erfolg wird. Hier finden wir bereits alles vor, was auch später für Fehrs wichtig bleiben wird, insbesondere die Schilderung des Dorfs als Mikrokosmos mit vielen guten, aber auch einigen Schattenseiten. Am Beispiel des Bauernsohns Hinnerk, einem körperlich beeinträchtigen „Stackel“, der von der Dorfgemeinschaft nur widerwillig akzeptiert wird, illustriert Fehrs, dass tragische Novellenstoffe durchaus auch auf dem Dorf gefunden und in der Sprache der Dorfbewohner*Innen aufgeschrieben werden können:

As he insegent woor, kreeg he den Spruch: „Der Mensch siehet, was vor Augen ist, der Herr aber siehet das Herz an.“ Hinnerk seh bleek un still vör sik dal, sien Moder wenn liesen in’n Schoot.

Johann Hinrich Fehrs: Lüttj Hinnerk. In: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Kay Dohnke und Jürgen Ruge. Bd. 1: Erzählungen und Novellen 1870–1886. Neumünster: Fehrs-Gilde/Wachholtz 1986, S. 75.

Dabei findet Fehrs durchaus auch Gelegenheit, die ländliche Idylle zu schildern, in der der Protagonist sich wohler fühlt als inmitten der dörflichen Gesellschaft:

An den Sünndag, wenn he nix to doon harr, gung he geern mal ganz alleen it’t Feld oder ok in de Heid. Von Möhl to kunnen se em mitto stunnenlang sitten sehn op en Hünengraff. Dor drööm Hinnerk mit waken Ogen. De wiede Welt weer so still un leeg dor vör em in en blauen Daak; de Imm brumm bi sien Fööt, ob en soren kröpeligen Führn seet dat Geelgöschen un sung sein kortes Leed ümmer un ümmer wedder. Dat klung, as wenn de lütt Vagel von ole schöne Tieden vertell, de de Wind nu al lang verweiht hett.

Johann Hinrich Fehrs: Lüttj Hinnerk. In: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Kay Dohnke und Jürgen Ruge. Bd. 1: Erzählungen und Novellen 1870–1886. Neumünster: Fehrs-Gilde/Wachholtz 1986, S. 84.

Eine Person, die anders als die anderen ist und deswegen aus der Dorfgemeinschaft flüchtet und Zuflucht in der Natur sucht – dieses Motiv verbindet Lüttj Hinnerk in verblüffender Weise mit ganz gegenwärtigen Texten wie etwa Dörte Hansens Roman Mittagstunde, wo sich die Figur "Marret Ünnergang" ganz ähnlich verhält.

Nachdem er gleich mit seinem ersten plattdeutschen Text sein Thema gefunden hat, bleibt Fehrs der Dorfthematik im Wesentlichen treu – in die Stadt begeben sich seine Texte eher selten, und wenn, dann handelt es sich wie in der Erzählung Binah bankerott (1888) um einen ungastlichen Ort voller Intrigen und Niedertracht. Entschieden ländlich ist auch sein heute wohl bekanntester Text, der „Dörproman“ Maren, der „in de provisorische Tiet von achtunveertig“ #2 spielt, also in einer Umbruchszeit. Wie schon in Lüttj Hinnerk geht es in Maren um eine Eheschließung, die den Vorstellungen des Dorfes widerspricht, aber Fehrs erweitert den Blickwinkel, indem er in einer Nebenhandlung von den Erlebnissen eines Soldaten in der anti-dänischen Erhebung berichtet und so nicht nur das Dorf Ilenbeck, sondern dessen Bezüge zu den politischen Ereignissen der Zeit darstellt.

Fehrs einziger Roman war aus dem Stand ein großer Erfolg und überschattet heute den Rest seines umfangreichen Werks ein wenig – nicht nur seine sonstige nieder- und hochdeutsche Prosa, sondern auch seine publizistische Produktion, die heute kaum mehr bekannt ist, wenngleich seit den späten 1980er Jahren eine umfassende und vorbildlich kommentierte Werkausgabe vorliegt. In seinen Reden, Rezensionen und Essays erweist sich Fehrs als umfassend gebildeter Literaturvermittler, der sich insbesondere für die Dichter*Innen des Nordens einsetzt: Er bespricht und bewirbt nicht nur den großen niederdeutschen Dichter Klaus Groth, mit dem er persönlich bekannt war, sondern auch weniger bekannte Namen wie Heinrich Iversen, Heinrich Zeise, Charlotte Niese oder Bernhard Endrulat. Besonders liegt ihm die Literaturgeschichte seines Heimatorts Itzehoe am Herzen, sodass er sich nicht nur seiner Zeitgenossin und Lehrerkollegin Emma Schmidt, sondern auch dem als „Müller von Itzehoe“ bekannten Dichter der Aufklärung Johann Gottwerth Müller widmet. Und natürlich bleibt es für einen Autor wie Fehrs nicht aus, sich grundsätzlich mit dem Status des Niederdeutschen als Literatursprache zu beschäftigen. In einem Aufsatz in der bedeutenden Zeitschrift De Eekboom setzt er sich dafür ein, seine Muttersprache vollständig als Medium ernsthafter Literatur zu etablieren – dass das Werk Fritz Reuters, der zu dieser Zeit wohl der bekannteste niederdeutsche Schriftsteller war, oft als humorvoll-belanglos abgetan wird, behagt ihm nicht. Als Begründung für seinen diesbezüglichen Ehrgeiz führt er nicht zuletzt die seelischen Folgen an, die die Verachtung des Niederdeutschen für die Bevölkerung Norddeutschlands habe:

Dat Woort Moderspraak düüdt al an, dat se uns neger angahn deit as jede annere Spraak. Wat wi ok föhlt, denkt un dröömt in Freud un Truer, för allens hett se en Utdruck. […] Un wat doot wi, ehr Kinner? As wie en ool Stück Möbel smiet wi de ool Moderspraak bisiet. De jungen Lüüd von’n Lann, wenn se to Stadt treckt, leggt mit den beierwandschen Rock ok ehr Modersprak achter sik, un daför spreekt se en Hochdüütsch, dat een slecht to Moot warrt, wat se seggt, klingt denn so hoochbenig, so instudeert, so unwohr. Se verleert mit de Moderspraak en Stück von ehr Seel.

Johann Hinrich Fehrs: Kinnerdank, den wi uns‘ plattdüütsche Modersprak schüllig sünd [1905/06]. In: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Kay Dohnke und Jürgen Ruge. Bd. 4.1: Vermischte Schriften 1870–1916. Neumünster: Fehrs-Gilde/Wachholtz 1989, S. 183.

Dafür, dass er das holsteinische Dorf und seine Sprache und damit vielleicht auch ein Stück der ländlichen Seele literarisch bewahrt hat, wird Fehrs bis heute geschätzt, auch wenn er heute sicherlich nicht mehr denselben Bekanntheitsgrad wie früher hat. Unmittelbar nach seinem Tod gründete sich die Fehrs-Gilde, die als Gesellschaft für niederdeutsche Sprachpflege, Literatur und Sprachpolitik bis heute aktiv ist und regelmäßig die Blätter der Fehrs-Gilde herausgibt. Die Stadt Itzehoe ernannte Fehrs 1913 zum Ehrenbürger, und nach seinem Tod wurde er hier auch begraben. Heute erinnert im Cirencester-Park ein Denkmal an ihn. Natürlich gibt es in Itzehoe auch eine Fehrsstraße, und auch Kiel, Neumünster, Bad Bramstedt, Kellinghusen und andere erinnern in dieser Weise an den Schriftsteller.

29.10.2021 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Für die biografischen Fakten vgl. die detaillierte Darstellung von Manfred Koch: Johann Hinrich Fehrs – Schriftsteller, Pädagoge, Bürger. Eine Biographie 1838–1916. In: Kay Dohnke, Alexander Ritter (Hrsg.): Johann Hinrich Fehrs – ein Erzähler der Provinz. Heide: Boyens 1987, S. 9-76.

2 Johann Hinrich Fehrs: Maren. En Dörproman ut de Tiet von 1848/51. In: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Kay Dohnke und Jürgen Ruge. Bd. 3: Erzählungen und Roman 1907-1916. Neumünster: Fehrs-Gilde/Wachholtz 1991, S. 7.