Gustav Gardthausen

Gardthausen, Gustav Waldemar; Pseudonym: Justus Ernst.

Weithin vergessener Sänger der Ostsee

Geboren in Kopenhagen am 4. April 1807
Gestorben in Ulkebüll (Ulkebøl, Dänemark) am 25. Oktober 1872

Die Biografie Gustav Gardthausens ist eng mit dem dänischen Schleswig-Holstein des frühen 19. Jahrhunderts verbunden, das Gardthausen im Laufe seiner 65 Lebensjahre ziemlich ausgiebig durchstreifte: Geboren in Kopenhagen, wuchs er in Kappeln auf und besuchte in Glückstadt und Eutin die Schule, um danach in Kiel (und Berlin) zu studieren. Er war ab 1831 Hauslehrer auf Fehmarn, lebte dann in Plön und kehrte nach einer Italienreise, die ihm der dänische König Christian VIII. finanziert hatte, zunächst nach Kappeln zurück. 1844 wurde er Pastor in Barmstedt und wechselte schließlich 1846 nach Ulkebüll (Ulkebøl) in Nordschleswig, wo er den Rest seines Lebens das Pastorat bekleidete.

Angesichts dieser vielen Umzüge innerhalb des Landes überrascht es vielleicht nicht, dass Gardthausen politisch und literarisch für die deutsch-dänische Einheit Schleswig-Holsteins eintrat. Schon sein Vater Hans Gardthausen, der ebenfalls Schriftsteller war und dessen Nachnamen der unehelich geborene Sohn erst im Alter von 20 Jahren annahm, hatte sich in dem von ihm herausgegebenen Almanach Eidora für den „geistigen Verkehr unter zwey befreundeten und verwandten Völkern“ eingesetzt. #1 Dass Gardthausen Junior in der Eidora Gedichte unter dem Namen des Vaters veröffentlichte, lässt auf ein Einverständnis der beiden Generationen in dieser Frage schließen.

Der eigene Durchbruch gelang Gardthausen 1839, und er fiel spektakulär aus: Sein Versepos Die Ostsee wurde nicht nur viel gelesen, sondern beeindruckte auch den dänischen König, dem der Autor selbst seine Verse vortrug, so sehr, dass dieser das erwähnte Italien-Stipendium gewährte. Wer das Werk heute liest (was allerdings schwierig ist – eine aktuelle Ausgabe liegt unbegreiflicherweise nicht vor), wird einiges von dem, was Christian VIII. gefiel, nachvollziehen können: Auch wenn nicht mehr alle politischen und literarischen Anspielungen verständlich sind, ist Die Ostsee ein elegant geschriebener Text, der die Strophenform der achtzeiligen Stanze virtuos verwendet und nicht nur im Gegenstand, sondern auch im unbekümmert-humorvollen Ton an Heinrich Heines Nordsee (1826) erinnert. Getreu dem am Anfang des Langgedichts vorgebrachten Motto „Man sieht sich satt, und das an allen Dingen, / Nur nicht am Meer, und nicht am Meeresgrund“ #2 lässt Gardthausen seine Leser*Innen ihn auf über 140 Seiten (zu denen noch Dutzende gelehrter Anmerkungen kommen) auf einer Schifffahrt von Kopenhagen bis nach Kappeln begleiten, was seinem Text einen bewusst lockeren Rahmen gibt. In Abgrenzung zu dem seinerzeit bekannten Romancier Heinrich Clauren will dieser Autor sein Publikum nicht unbedingt mit sensationellen Plotelementen fesseln, sondern ihm vielmehr dieselbe assoziative Freiheit bieten, die auch eine Seefahrt ermöglicht:

Im Uebrigen erwartet kein Gedicht
Mit eingefugten, episch festen Rippen,
Kein Liebespaar mit Klauren’schem Gesicht,
Das Euch gespannt hält bis zum Ueberkippen,
Ob sie zuletzt sich kriegen oder nicht –?
Ich wünsche blos in hübschen Reisebildern
Euch Himmel, Meer und Vaterland zu schildern.

[…]

Als rother Faden soll mein Herz sich frei
Durch meines Liedes Takelage schlingen.
Der Weg ist kurz: vom Sunde bis zur Schley.

Gustav Gardthausen: Die Ostsee. Gedicht in drei Gesängen. Kiel: Baurmeister & Comp. 1839, S. 13.

Dementsprechend gestaltet sich das Gedicht insbesondere in der ersten Hälfte als ungezwungene Aufzählung verschiedenster Beobachtungen – da dem Erzähler auf der Ostsee ein weiteres Schiff mit einem Freund an Bord begegnet und dieser von seinen bisherigen Reisen bis nach Helsingør im Norden Seelands berichtet, ist der Text nicht einmal an die Reisestrecke „vom Sunde bis zur Schley“ gebunden, sondern kann weiter ausholen. Insgesamt ergibt sich so ein buntes Nebeneinander unterschiedlichster Eindrücke, wobei allerlei Meeresgetier und Naturschilderungen ebenso Platz finden wie menschliche Diversität. Letztere kann der Erzähler beispielsweise auf einer aus Kiel kommenden Fähre beobachten:

Studenten, Juden, Officiere, Kinder,
Mama und Tochter, alt und neuen Styl,
Kuhpocken-, Gas- und Allerlei-Erfinder,
Pedanten, und ein ganzes Puppenspiel
Dickthuerisch gespreizter Bürstenbinder –
Sie alle sendet unser gutes Kiel,
Die Stadt der Grillen und der Grillenfänger,
Der Los-, Partei-, Spazier- und Müssiggänger.

Ebd.

Erst allmählich und unaufdringlich entwickelt Gardthausen sein eigentliches Thema, nämlich die – trotz aller Verschiedenheit – unbestreitbare Einheit Schleswig-Holsteins. Einen ersten Hinweis darauf, dass es gerade die von ihm befahrene Ostsee ist, die eine solche Einheit herstellt, liefert der bereits erwähnte Freund, ein deutschsprachiger Schleswiger, der auf dem Weg nach Kopenhagen und auf der Suche nach seiner nationalen Identität ist:

„Doch ich, woran ist meine Heimath kenntlich?
Hab‘ ich ein Vaterland? Wo? Drüben? Hie?

Ein Vatermeer – das hab‘ ich!“

Ebd., S. 79f.

Der hier angesprochenen Frage, was Schleswig-Holstein ausmacht, widmet sich Gardthausen dann in der zweiten Hälfte seines Buchs in großer Ausführlichkeit. Er nimmt nun nicht mehr nur den Blickwinkel des Schiffsreisenden ein, sondern sieht sich das Land nun aus einer imaginären Vogelperspektive an, wobei erneut deutlich wird, dass es das Wasser ist, das das Territorium zusammenhält:

Da liegt es, unser Land! Von Alsen’s Hainen
Bis hin zu Panker’s Höhen, lang und schmal.
Mit Segeln prangt sein Meer, die einzeln scheinen
Wie Flocken Schnee’s auf dunkelblauem Stahl.
Entgleitend suchen sie der Häfen einen,
Die Schley, die schönen Föhrden, den Kanal:
Dies Band, geschürzt, mit silbernen Gewinden
Die Herzogthümer freundlich zu verbinden.

Ebd., S. 118.

Bei dieser maritimen Prägung überrascht es nicht, dass der Autor zu Formulierungen kommt, die an Matthäus Friedrich Chemnitz‘ berühmten, aber erst drei Jahre nach der Ostsee entstandenen Vers „Schleswig-Holstein meerumschlungen“ erinnern (auch wenn sie vielleicht etwas weniger eingängig sind):

Geliebtes Schleswig-Holstein! zweier Meere
Bespültes Zwischenland und schönste Zier,
Du Stirne Deutschland’s, und zu seiner Ehre
Umlaubt mit Eichenkränzen dort und hier:
Wie auf den Wogen meine schwanke Fähre,
So naht im Liede meine Seele dir

Ebd., S. 89.

Anders als der deutsche Patriot Chemnitz ist Gardthausen aber in seinem Gedicht dem Landesherren nicht feindlich gesinnt. Er lobt die dänische Sprache („So weich klingt dänisch, daß selbst rauhe Kehlen / Dem fremden Hörer seine Neigung stehlen“ #3) und entwickelt in einer langen Erörterung am Ende seines Gedichts eine inklusive Vision: Nicht aufgrund von deutschem Hurrapatriotismus solle man Schleswig-Holstein lieben, „sondern – weil es unser Land ist!“ #4 Dass ein solcher Schluss selbst dem dänischen König gefallen (und die Geldbörse öffnen) konnte, spricht für den versöhnlichen Charakter von Gardthausens Dichtung.

Während Die Ostsee trotz mancher kritischer Stimmen – Theodor Mommsen parodierte das Gedicht im gemeinsam mit seinem Bruder Tycho und Theodor Storm verfassten Liederbuch dreier Freunde – ein Überraschungserfolg wurde, blieb Gardthausen danach im Wesentlichen ein One-Hit-Wonder. Sein in Italien entstandenes Nachfolgewerk Antonello ist ein wesentlich weniger originelles Epos voller exotisierender Klischees, das sich mit einigem Pathos dem griechischen Freiheitskampf widmet. Und das kurze Drama Der Ministercongreß, das Gardthausen 1851 unter dem sprechenden Pseudonym „Justus Ernst“ veröffentlichte, bezieht sich zwar wieder konkret auf seine Heimat, genauer gesagt auf das Scheitern der schleswig-holsteinischen Erhebung, aber die grelle politische Satire vermag nicht recht zu zünden. In dem Drama begibt sich ein „Mann aus Schleswigholstein“ zum titelgebenden Kongress, um für die Sache seines Landes zu werben, wird aber von den versammelten Würdenträgern ebenso zynisch und abgespeist wie hier von einem Hofmarschall, der die Begeisterung für den Freiheitskampf nur heuchelt:

(Ein Mensch aus Schleswig-Holstein! Quel horreur!)
Fürwahr, mein Herr, die unverhoffte Ehre
Ist mir so schmeichelhaft, daß meine Brust
Zum Tummelplatze freud’gen Stolzes wird.
(Mon Dieu, mon Dieu!) Seitdem für Patrioten
Der Name Ihres Lands zum Wohllaut ward,
Ersehnte sich dies Glück mein deutsches Herz.
(Parbleu, que dire?) Ein ächter also – ein –
Ein Mann aus Schleswigholstein, meerumschlungen!

Justus Ernst (d.i. Gustav Gardthausen): Der Ministercongreß. Drama in einem Act. Kiel: Schröder & Comp. 1851, S. 9.

In dieser Szene spiegelt sich, wenn man so will, die Tragik von Gardthausens politischer und literarischer Existenz: An ein gutgelauntes, versöhnliches Gedicht über die Ostsee ist in den Zeiten der Krise nicht mehr zu denken. Stattdessen ist der Vers vom meerumschlungenen Schleswig-Holstein, der nicht von Gardthausen stammt, aber gut zu seiner Poetik des Meeres passte, in kürzester Zeit zur politischen Phrase geworden.

2.11.2022 Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Zitiert nach Horst-Joachim Frank: Literatur in Schleswig-Holstein. Bd. 3.1: Im Gesamtstaat. Neumünster: Wachholtz 2004, S. 380.

2 Gustav Gardthausen: Die Ostsee. Gedicht in drei Gesängen. Kiel: Baurmeister & Comp. 1839, S. 4.

3 Ebd., S. 47.

4 Ebd., S. 132.