Günter Kunert

Kunert, Günter.
 

Geboren am 6. März 1929 in Berlin
Gestorben am 21. September 2019 in Kaisborstel


Dichter zweier deutscher Länder

 

Auf toten Flüssen treiben wir dahin,
vom Leben und dergleichen Wahn besessen.
Was wir erfahren, zeigt sich ohne Sinn,
weil wir uns selber längst vergessen.
Vom Augenblick beherrscht und eingefangen,
zerfällt der Tag, der Monat und das Jahr.
Und jede Scherbe schafft Verlangen
Nach Ganzheit: Wie sie niemals war.

Günter Kunert: Achtzeiler. In: Ders., Fremd daheim. München 1990, S. 58.

Günter Kunert gehört zu den ungemein produktiven Dichtern: Lyrik, Erzählungen, Aufzeichnungen, Satiren und Märchen, Hörspiele, Reiseskizzen … die öfters gebrauchte Formulierung eines „kaum überschaubaren Werks“ trifft hier ausnahmsweise einmal zu. „Unter den Lyrikern der Gegenwart ist er ein Autor der Angst, des Zweifels, der Vergeblichkeit. Doch immer bleibt er kühl und zurückhaltend, ein denkender und nachdenklicher Dichter, der keine Botschaften, nur Mitteilungen von sich gibt und die Lakonie den pathetischen Gesten vorzieht.“ #1 Thematisch waren ihm die unterschiedlichen Befindlichkeiten in dem zunächst getrennten und dann wiedervereinigte Deutschland ein wichtiges Anliegen. Dabei vollzog Kunert die Wende „vom aufgeklärten und aufklärenden Aufbaudichter der frühen DDR zum radikalen Utopiekritiker und Apokalyptiker in säkularem Gewand“.  #2

Günter Kunert wird 1929 als Sohn eines Kaufmanns geboren; aufgrund seiner Herkunft – die Mutter ist Jüdin – darf er „keine weiterführende Schule besuchen“.#3 Ab 1943 ist er Lehrling in einem Textilgeschäft, danach studiert er – ohne Abschluss – an der Hochschule für angewandte Kunst in Berlin-Weißensee. 1947 kommt es zur ersten Veröffentlichung in der Zeitschrift Ulenspiegel und 1950 zum Debütband Wegschilder und Mauerinschriften. Kunert wird von Johannes R. Becher gefördert, lernt Bertolt Brecht und Nicolas Born – mit dem ihn ein umfangreicher Briefwechsel verbinden wird – kennen und liefert zahlreiche Beiträge für den Rundfunk. Er versteht „den Auftrag der Lyrik als Aufklärung und kritischen Dialog mit Gesellschaft und Partei“, dazu gehört die Mitarbeit an einer „antifaschistischen nationalen Identität“. #4 Entsprechend ist er seit 1948 Mitglied der SED. 1965 kann er an der Jahrestagung der Gruppe 47 in Berlin (West) teilnehmen und nachfolgend in der Bundesrepublik publizieren, zumal sich der Tonfall seiner Gedichte ändert: „Sie offenbaren zusehends ein Misstrauen in die Belehrbarkeit des Menschen, der den aufrechten Gang, nicht aufrechtes Verhalten gelernt hat.“ #5 Statt positivem „Lehrauftrag“ dominieren „Anonymität und Isolierung, Skepsis und Sorge, Zweifel und Verzweiflung, Beziehungslosigkeit und Liebesverrat“. #6 Entsprechend sieht sich Kunert „in der DDR vermehrt kulturpolitischer Kritik ausgesetzt“. #7 1972/73 ist er Gastdozent in den USA und 1975 Writer in Residence an der University of Warwick in England.

Die 1970er Jahre stehen im Zeichen eines wachsenden Staats- und Ideologieverdrusses. Zum Bruch kommt es, als Kunert 1976 die Petition gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann unterzeichnet. Er wird von der Staatssicherheit überwacht und 1977 aus der SED ausgeschlossen. Michael Krüger 1979 über Kunerts Worte: „Werden sie auf die Gesellschaft bezogen, wie der Autor sie erfährt, dann formulieren sie in der Tat einen bedrohlichen Kommentar sowohl zur herrschenden Ideologie des realen Sozialismus auf deutschem Boden als auch zu der an Macht verlierenden Ideologie der offenen Gesellschaft. Werden sie dagegen lediglich als Äußerungen einer Person interpretiert, die ihre Verletzungen öffentlich ausstellt, um Mitleid zu erwecken oder auch nur Aufmerksamkeit zu fordern, so können sie leicht (und leichtfertig) als ‚individualistisch‘ angeprangert (drüben) oder als ‚subjektivistisch‘ zur Kenntnis genommen werden (hüben).“#8

Es weht wild
Die Fahne dieses bedeutenden Bartes
Über die immer wieder aufplatzenden Schalen
Der Erde.

Es weht über wandernde Fronten.
Über dem unaufhörlichen Widerspruch und über dem aufhörlichen.
Über den Kriegen, die von Donnerstagabend bis Freitagfrüh scheinen:
Der ewige Friede zwischen Efeu und Eiche,
zwischen Unternehmern und Unternommenen,
Abnordnern und Angeordneten, Machthabern und
Nichtshabern,
Gläubigen und denen, welche daran glauben sollen müssen.
Zwischen Welle und Ufer
Währt Feindschaft: die beste, die möglich ist.

Günter Kunert: Marx. In: Ders., Gedichte, München/Wien 1982, S. 51.

1979 verlässt Kunert mit einem Visum die DDR und lebt als freier Schriftsteller in Kaisborstel, wo er sich „zum Stichwortgeber der apokalyptischen Stimmung der 1980er Jahre“ entwickelt: Gedichtbände wie Abtötungsverfahren (1980) zeigen ihn „als Diagnostiker eines drohenden Weltuntergangs, dessen Vorzeichen er aus den abgelagerten Schichten der Geschichte herausliest. Grundmodell dieser Perspektive ist das von der Geschichte immer wieder zerstörte und erneuerte Berlin, das als ‚neues Troja‘ gedeutet wird.“ #9 Nach der Wiedervereinigung bleibt Kunerts skeptische Attitüde bestehen: Der Grundtenor der Gedichte nach 1990 ist melancholisch und distanziert.

Auch wenn Kunert von Publikum wie Kritik in erster Linie als Lyriker wahrgenommen worden ist, hat er zahlreiche Prosabände veröffentlicht. Im Namen der Hüte (1967) ist teils Schelmenroman, teils Zeitporträt: Die teils burleske, teils drastische Darstellung wird mit Märchenmotiven verbunden und handelt von einem minderjährigen Anti-Helden Henry, den Kunert „als eine Art tragikomische Picaro-Gestalt auf eine Überlebensreise durch die Wirren der letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs und der frühen Nachkriegszeit schickt“. #10 Dabei entdeckt die Figur, dass sie die Gedanken und Erinnerungen all jener lesen kann, deren Kopfbedeckung sie aufsetzt: „Die Hüte, die Henrys Weg kreuzen, bilden die erzähltechnische Struktur der Handlungsführung, vor allem aber sind sie Medium der Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte.“ #11 Eine große Rolle spielt die Sprache, die in ihrer Farbigkeit die „vielfältigen Erlebnisse“ des Protagonisten abbildet – „sie ist diskursiv, wortverspielt, ironisch und satirisch, lyrisch-metaphorisch, sie kolportiert und persifliert Zeitjargon und parodiert Klassikerzitate.“#12

Die Kurzprosasammlung Im toten Winkel (1995) hingegen enthält präzise und klar gefasste Miniaturen, die von Wahrnehmungen und plötzlichen Erkenntnissen handeln. In der Titelgeschichte heißt es: „Während des Überholens geschieht, daß der überholende Wagen im Außenspiegel verschwindet: er fährt im toten Winkel unsichtbar dahin, und für den Überholten scheint es, als habe der andere sich in Luft aufgelöst, bis er aus einem toten Winkel hervorschießt und an ihm vorbeizieht – ein alltäglicher und überaus bekannter Vorgang, den zu erwähnen sich kaum lohnte, enthielte er nicht ein unauffälliges Gleichnis. Und das besteht darin, daß wir in unserem täglichen Leben von einer wahrlich unübersehbaren Anzahl toter Winkel umgeben sind, aus denen manchmal unerwartet auftaucht, was uns vielleicht schon lange begleitet hat.“ #13 Dieter E. Zimmer hat darauf aufmerksam gemacht, „daß es nicht die spektakulären Erfindungen von Handlungsmustern und außergewöhnlichen Plots sind, die Kunerts Geschichten auszeichnen würden. Es sei eher umgekehrt: Belanglose Alltäglichkeiten werden sprachlich so verwandelt, daß die künstlerisch erschlossene Form Bedeutungsschichten freilegt, die der normierte Alltagsblick in ihnen gar nicht zu erkennen vermag.“#14

Kunert ist aber auch als Humorist zu entdecken. In seinem Erinnerungsbuch Erwachsenenspiele (1997) heißt es zu seiner Hochzeit: „April, April – wir heiraten! Marianne hat den Tag, den 1.4.1952, bestimmt, damit wir uns im Notfall auf einen schlechten Scherz berufen können. Ölsardinenartig beieinander verbringen wir die Nacht in meinem Ostberliner Zimmer auf einer Couch, aus deren zentralem Tal wir uns morgens emporwuchten. Draußen schneit es, als stehe Weihnachten vor der Tür. Die Trauzeugen, mein Vater und Mariannes Bruder, stehen bereit für die nüchtern ablaufende Zeremonie. Die Kragen beim Warten auf die Straßenbahn hochschlagen: Es stürmt und bläst und windet. Die Bahn rollt heran und bringt uns nach drei Haltestellen zum Standesamt. Ein rotbrauner wilhelminischer Klotz mit vielen Treppen und bedrohlich gefängnisgleichen Gängen. Fröstelnd und von Nässe durchweicht, dem Aussehen nach Statisten aus Victor Hugos ‚Die Elenden‘, treten wir vor den Standesbeamten hin. [Marianne] bestreitet hinterher, anstelle meiner Zustimmung ein lautes ‚April, April!‘ erwartet zu haben.“#15

Günter Kunert hat zahlreiche Auszeichnungen und Stipendien erhalten, darunter den Heinrich-Mann-Preis 1962, der Johannes-R.-Becher-Preis 1973, den Georg-Trakl-Preis für Lyrik 1997 und den Kunstpreis des Landes Schleswig-Holstein 2014. Er war seit 1981 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, seit 1988 Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg und von 2005 bis 2018 Vorstandspräsident des P.E.N.-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland.

2021 wurde erstmals der Günter Kunert Literaturpreis für Lyrik verliehen. „Mit diesem Preis soll eine Lyrikerin oder ein Lyriker ausgezeichnet werden, deren oder dessen in den Jahren 2019 oder 2020 erstmals in Druckform erschienenes Werk einen besonderen Beitrag zur deutschsprachigen Lyrik geleistet hat.“ #16 Die mit € 10.000 dotierte Auszeichnung wird alle zwei Jahre von der der Kultur Stiftung Itzehoe vergeben.

13.06.2021 Kai U. Jürgens

ANMERKUNGEN

1 Kindlers Literatur Lexikon, Bd. 9, Stuttgart/Weimar 2009, S. 502.

2 Ebd.

3 Deutsches Literatur-Lexikon – das 20. Jahrhundert, Bd. 34, Zürich/München 2020, S. 154.

4 Kindlers Literatur Lexikon, wie Anm. 2, S. 502.

5 Ebd., S. 503.

6 Ebd.

7 Deutsches Literatur-Lexikon, wie Anm. 4, S. 154.

8 Michael Krüger: Vorwort. In: Kunert lesen, hg. von Michael Krüger, München/Wien 1979, S. 7–10, hier: S. 7.

9 Kindlers Literatur Lexikon, wie Anm. 2, S. 504

10 Ebd., S. 505

11 Ebd.

12 Ebd.

13 Günter Kunert: Im toten Winkel. In: Ders., Im toten Winkel. Ein Hausbuch. München 1992, S. 101–102, hier: S. 101.

14 Manfred Durzak: Kunerts gestisches Erzählen. Der Geschichtenerzähler Günter Kunert. In: Kunert-Werkstatt. Materialien und Studien zu Günter Kunerts literarischem Werk. Hg. v. Manfred Durzak & Manfred Keune, Bielefeld 1995, S. 169–182, hier: S. 173.

15 Günter Kunert: Erwachsenenspiele. Erinnerungen. München/Wien 1997, S. 160.

16 www.kulturstiftung-itzehoe.de/literaturpreis.