Kirchnüchel

WISSENSWERTES

Wer auf der Straße von Schönwalde nach Lütjenburg zu schnell fährt, hat Kirchnüchel hinter sich, bevor er es sieht. Fahrradtouristen sind hier im Vorteil. Das westlich des Bungsbergs in malerischer Landschaft gelegene Dorf mit nicht einmal 200 Einwohnern bestand noch vor hundert Jahren lediglich aus Kirche, Pastorat, Organistenwohnung mit Schulhaus und einem Gasthaus. Das hat sich seitdem nicht wesentlich verändert, nur einige Häuser sind neu und das Gasthaus „Marienquelle“ steht leer. Dennoch ist der kleine Ort einen Besuch wert. Kirchnüchel war im Mittelalter nämlich ein bedeutender Wallfahrtsort, eine Stätte katholischer Marienverehrung. Hier entsprang die Marienquelle, deren Wasser als wundertätig und heilkräftig galt. Die Quelle war sehr wahrscheinlich schon den Slawen heilig, die seit dem 9. Jahrhundert Ostholstein besiedelten. Als seit dem 12. Jahrhundert aus dem Westen christliche Siedler zuwanderten, nannten sie das slawische Dorf „Wendisch-Nüchel“. In der Nähe gründeten sie eine eigene Siedlung, „Deutsch-Nüchel“ (heute Nüchel). Im Zuge der Christianisierung Ostholsteins wurden nicht wenige slawische Heiligtümer zu christlichen umgewidmet. So auch die Quelle von Wendisch-Nüchel. Sie wurde ein Marienheiligtum. In der Nähe der Quelle wurde die Marienkirche gebaut, zuerst wohl lediglich eine Wallfahrtskapelle. So wurde Wendisch-Nüchel zu Kirchnüchel. Die Feldsteinkirche – 1259 erstmals urkundlich erwähnt – hat nach mehreren Umbauten (1666 stürzte das Gewölbe ein) und Restaurierungen heute natürlich nicht mehr ihre ursprüngliche Form. Aber die von außen gut sichtbaren Mauern aus schweren Feldsteinen zeigen ihre mehr als 750 Jahre zurückreichende Geschichte.

Eine echte Sehenswürdigkeit ist ein alter Gegenstand der Marienverehrung aus dem frühen 14. Jahrhundert: eine nur 7 cm große, aus Elfenbein geschnitzte Figur der Madonna mit dem Jesuskind, gehüllt in ein besticktes, mit Flussperlen verziertes Samtmäntelchen. Zu dieser winzigen Marienfigur pilgerten Wallfahrer von nah und fern auf der Suche nach geistlichem Trost oder Heilung von Krankheiten. Als die Kirche nach der Reformation protestantisch wurde, war die Marienfigur nicht mehr gern gesehen. Sie galt als Überrest katholischen Aberglaubens. So schrieb Eduard Bruhns in seinem „Führer durch die Umgegend der ostholsteinischen Eisenbahnen“ von 1874 skeptisch:

Nach der Volkssage war in katholischer Zeit die Kirche zu Nüchel [i.e. Kirchnüchel] ein berühmter heiliger Ort, wohin von Leidenden und Gläubigen Wallfahrten geschahen. Der Gegenstand der Bewunderung und Anbetung, von dem Tausende Hülfe und Trost erflehten, ist noch jetzt da, aber arm an Hülfe und Zutrauen zur Unbedeutendheit herabgesunken: ein 57 mm hohes aus Elfenbein geschnitztes Marienbild mit dem Jesuskind auf dem Schoos, das als Symbol der Weltherrschaft eine Kugel in der Hand hält. Es soll früher an der Quelle hinter dem Hofe Grünhaus am Wallfahrtstage (8. September, Mariä Geburt) aufgestellt gewesen sein; jetzt liegt es im Pult der Predigers, und zwar noch in einem mit Perlen gestickten Beutel, jedoch der Betastung jedes Schaulustigen ausgestellt; vom Wallfahrtstage ist nur noch der Jahrmarkt übrig geblieben, der auf Mariä Geburt in den Morgenstunden abgehalten wird.

Eduard Bruhns: Führer durch die Umgegend der ostholsteinischen Eisenbahnen. Eutin 1874, S. 190.

Heute ist die Marienfigur dem Zugriff neugieriger Finger nicht mehr ausgesetzt. Gut geschützt, eingelassen in einen Mauerpfeiler links vor dem Altarraum ist sie in der Kirche zu besichtigen. Wallfahrtstag und Jahrmarkt gibt es nicht mehr, dafür nach wie vor die schon von frühen Reiseführern gelobte Aussicht von der Kirche über den Friedhof auf die bewegte Wald- und Feldlandschaft (mit Picknickbank am Friedhof). Der gegenüber der Kirche liegende alte Gasthof „Marienquelle“ ist leider nicht mehr bewirtschaftet.

LITERARISCHES

Im neben der Marienkirche gelegenen Pfarrhaus wurden zwei berühmt gewordene Pastorensöhne geboren: 1742 Christian Cay Lorenz Hirschfeld, einer der bedeutendsten Theoretiker der Gartenkunst im Zeitalter der Aufklärung und Förderer des Landschaftsgartens, und 1841 Julius Stinde, der nicht nur als Chemiker Karriere machte, sondern auch als Journalist, humoristischer Theaterautor und Verfasser erfolgreicher (und immer noch lesenswerter) Romane um eine Berliner Kleinbürgerfamilie namens Buchholz. Am seinem Geburtshaus, dem alten Pastorat, ist eine Gedenktafel angebracht.

IN DER UMGEBUNG

Kirchnüchel ist eine Station auf dem Radfernwanderweg „Mönchsweg“, der alte christliche Stätten von Bremen bis nach Puttgarden miteinander verbindet.

Zur Gemeinde Kirchnüchel gehört Gut Grünhaus, ein ehemaliger adeliger Besitz der gräflichen Familie Brockdorff zu Kletkamp. Grünhaus ist heute ein moderner landwirtschaftlicher Betrieb in Privatbesitz und nicht zu besichtigen.

Knapp 7 km östlich von Kirchnüchel liegt der Bungsberg, mit 168 m der höchste Berg Schleswig-Holsteins (was bei Besuchern aus Süddeutschland oft für Heiterkeit sorgt). Auf seiner Höhe stehen zwei Türme: der aus dem 19. Jahrhundert stammende, nach Restaurierung wieder öffentlich zugängliche Elisabethturm und der aus den 1970er Jahren stammende, 179 m hohe Fernmeldeturm, von dessen auf 40 m Höhe gelegener Aussichtsplattform man bei klarem Wetter eine kilometerweite Sicht über Ostholstein hat.

7.6.2021Susanne Luber