Hermann Claudius
Claudius, Hermann.
Lyriker, Erzähler und Vorstandsmitglied des nationalsozialistischen Eutiner Dichterkreises
Geboren in Langenfelde am 19. Oktober 1878
Gestorben in Grönwohld am 8. September 1980
Wachsam am Gashebel harrt meine Hand.
Die Straße rollt ab, ein gleitendes Band.
Scheu in der Runde hebt sich das Land.Ich trinke die Wälder, die Hügel im Schwung
wie einen tollen, berauschenden Trunk,
der kühn macht und blühn macht und ewig jung!
Bundeskanzler Willy Brandt hat ihm zum 95. Geburtstag ein Glückwunschtelegramm geschickt #1 – und der Schriftstellerkollege Werner Bergengruen ihn als „schwächliches, aufgeplustertes, selbstzufriedenes Halbtalentchen“ #2 kritisiert: Hermann Claudius, der Urenkel des Dichters Matthias Claudius (1746–1815). Tatsächlich gehörte er „zu der kleinen Anzahl deutscher Schriftsteller, die vor 1933 der linken Seite des politischen Spektrums zugerechnet, im ‚Dritten Reich‘ aber vom NS-Regime lobend anerkannt und angenommen wurden“. #3 Eine ungewöhnliche Karriere – wenn es denn wirklich eine war.
Hermann Claudius wird 1878 in bescheidene Verhältnisse hineingeboren und arbeitet ab 1900 als Lehrer; im Lauf von dreißig Jahren wird er an über zehn Schulen tätig sein. Die längste Zeit seines Lebens lebte er in Hamburg; seine Großstadtlyrik verarbeitet Erfahrungen seiner städtischen Lebenswelt. 1904 heiratete er Franziska Blaschka, mit der er vier Kinder hat, und veröffentlicht 1912 sein erstes Buch, die plattdeutsche Gedichtsammlung Mank Muern. Am Ersten Weltkrieg nimmt er als Kanonier teil. 1933 erleidet er einen Motoradunfall, als dessen Folge Claudius allmählich ertaubt; er wird im Folgejahr pensioniert und arbeitet fortan als freier Schriftsteller.
Claudius gehörte der Wandervogelbewegung an, die auf die Industrialisierung mit einer gesteigerten Hinwendung an Natur und Tradition reagierte, und deren modernitätskritische Haltung er teilte. Später verstand er sich als Sozialdemokrat und trat 1917 der SPD bei. Mit Wann wir schreiten Seit‘ an Seit‘ gelang ihm 1914 ein Gedicht, das in der Vertonung von Michael Englert zu einem „Kampflied“ der Arbeiterbewegung wurde, auch wenn es nachfolgend – mit Textänderungen – von rechten wie linken Bewegungen vereinnahmt wurde. Seit den 1960er Jahren dient es als Schlusslied auf Parteitagen der SPD. Tatsächlich begann Claudius mit dem unkonventionellen Ansatz, plattdeutsch über das Motiv der Großstadt zu schreiben; die meisten seiner Gedichte kreisen – tendenziell unpolitisch und christlich grundiert – um die Begriffe Heimat und Natur. Zudem hat er das Niederdeutsche gefördert.
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten wurde Claudius 1933 an der Preußischen Akademie der Künste aufgenommen und gehörte – wie Hans Friedrich Blunck, allerdings auch Gottfried Benn – zu jenen Autoren, die das Gelöbnis treuester Gefolgschaft für Adolf Hitler unterzeichneten, dem er später noch einen gebetsähnlichen Vers widmete. #4 Der einen Lesart nach war er kein überzeugter Nationalsozialist, sondern lediglich aus materiellen Gründen „Helfershelfer des Regimes“: #5
Nach seiner krankheitsbedingten Pensionierung war Claudius ständig in Geldsorgen und lebte in bescheidenen Verhältnissen. Er war abhängig von Veröffentlichungen, um seine Familie zu ernähren. Dies ermöglichte ihm die NS-Kulturpolitik.
Der anderen Lesart nach dienten seine vielgedruckten Schriften nicht zuletzt dazu, die Fassade des Dritten Reichs aufzupolieren und „die Diktatur mittels Gemeinschaftserlebnissen auf ‚sanfte‘ Weise zu befestigen“. #6 Hierzu passt, dass Claudius zwischen 1933 und 1945 vier bedeutende Literaturpreise erhalten hat, darunter den Klaus-Groth-Preis für plattdeutsche Lyrik (1941) und den Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg (1942).
Nach dem krankheitsbedingten Tod seiner ersten Frau im Jahr 1941 heiratet Claudius 1944 Gisela von Voight. Er starb – hochgeehrt – 1980 im Alter von 101 Jahren. Sein Haus in Gröhnwohld hat heute die Adresse Hermann-Claudius-Weg 16.
15.5.2021 Kai U. Jürgens
ANMERKUNGEN
1 Gemeinsam mit Helmut Schmidt und Heinz Kühn.
2 Frank-Lothar Kroll u.a. (Hg.): Werner Bergengruen: Schriftstellerexistenz in der Diktatur. Aufzeichnungen und Reflexionen zu Politik, Geschichte und Kultur 1940–1963, Oldenbourg/München 2005, S. 54.
3 Lawrence D. Stokes, Der Eutiner Dichterkreis und der Nationalsozialismus. Neumünster 2001, S. 259.
4 Vgl. zu dieser Zuordnung: Gerd Katthage: Beten für den Führer. Hermann Claudius und der Nationalsozialismus: Kontextualisierung eines umstrittenen Textes. In: Wirkendes Wort, Heft 2, August 2018, S. 243–265.
5 Stokes (wie Anm. 3), S. 263.
6 Ebd., S. 261.
Veranstaltungen
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ORTE
WERKE
- Mank Muern. Hamburg: Verlag der Fehrs-Gilde 1982. (erstmals: 1912).
- Hörst Du nicht den Eisenschritt. Zeitgedichte. Hamburg: Janßen 1915. (erstmals: 1914).
- Das Silberschiff. Die Geschichte einer Sehnsucht. Lübeck, Leipzig: Antäus-Verlag 1940. (erstmals: 1923).
- Daß dein Herz fest sei. Neue Gedichte. München : Albert Langen/Georg Müller 1934.