Jochen Missfeldt

Missfeldt, Jochen

Schriftsteller zwischen Himmel und Heimat

Geboren in Satrup am 26. Januar 1941

Lebt in Stadum

Hinter Schleswig, wo das Land weit wird und die Bilderbuchlandschaft Angelns in ein Nirgendwo platter Felder übergeht, fühlt man sich Solsbüll schon einigermaßen nah. Diesem fiktiven Dorf im Norden Schleswig-Holsteins, in dem Jochen Missfeldt seine literarische Welt ansiedelt, seit er es 1989 in seinem gleichnamigen Romandebüt erfand. Ein Land, in dem man bei aller Weite oft nicht sehr weit sieht. Weil „Busch und Buckel“ die Sicht versperren, „die Wege gekrümmt und unergründlich“ sind und es, „wenn auch flach, tausendmal bergauf und bergab geht“. Von Sommerdunst und Herbstnebel ganz zu schweigen.

Solsbüll ist der Ort von Gustav Hasse, den es gleich dreimal gibt in dem Buch: Großvater, Vater und Sohn. Versionen eines Daseins, denen sich die jeweiligen Zeitläufe eingeprägt haben, ein bisschen Abziehbilder, vor allem aber Stellvertreter ihrer Generationen. Während Großvater und Vater in den Weltkriegen fallen, wächst Gustav Hasse in den Nachkriegsjahren mit Mutter, Großmutter und Kindermädchen Mete im sogenannten „Hebammenhaus“ auf. Und er hat, anders als die Vorväter, die Möglichkeit, seinen Weg selbst zu bestimmen.

Solsbüll ist aber auch so etwas wie Missfeldts literarischer Anker, an den er immer wieder andockt in seinem Schaffen. Kaum ein Zufall also, dass Jochen Missfeldt auch selbst hier oben wohnt und arbeitet. Sein Büro hat er in Oeversee, unweit der Treene, dem alten Seehandelsweg, und der B 76 von Kiel nach Flensburg. Und ziemlich genau auf der Mitte zwischen Nord- und Ostsee.

1941 in Satrup geboren und aufgewachsen in Angeln, kam er als junger Fliegeroffizier nach der Pilotenausbildung in den USA in den Sechzigern nach Stadum-Leck. Der Schriftsteller kam erst später, 1982 mit der Pensionierung – die ist für Bundeswehr-Piloten mit knapp über 40 immer noch üblich. Einige Gedichtbände hatte er da schon veröffentlicht, mit Titeln wie poetische Sinnbilder oder verknappte Geschichten: Gesammelte Ängste (1975) oder Mein Vater war Schneevogt (1979).  

Solsbüll, hat Missfeldt mal in einem früheren Gespräch gesagt, sei sein Lebensthema: „Darin sammle ich Menschen, Landschaften und Geschichten meiner Heimat.“ Es ist der ländliche Mikrokosmos, in dem der Schriftsteller Welt und Zeiten spiegelt. Das Kleine, in dem sich das Große erklärt. Er findet in den alltäglichen Verrichtungen die Spuren und Wunden, die die Geschichte in den Menschen und in der Dorfgemeinschaft hinterlassen hat:

Ein Tag. In Solsbüll geht es schon wieder viel zu geschniegelt zu. Wo sind die alten Zeiten, so fragten sich die alten Kämpfer an Rabes Stammtisch. Immer was los nach dem Motto Überraschen / Zuschlagen / Verschwinden und anschließend wieder gemeinsam bei Bier und Korn. Vorbei, ach, vorbei.

Jochen Missfeldt: Solsbüll. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2017.

So beginnt eine Rückschau in die Nazi-Zeit in der nördlichen Provinz – und der Blick auf die Emporkömmlinge und Wendehälse des Nachkriegs. „Solsbüll ist nicht […] nirgendwo, sondern überall“, fasste Albert Schirnding in seiner Laudatio zum Wilhelm-Raabe-Preis die Welthaltigkeit des Romans zusammen. Die Wochenzeitung Die Zeit nannte das Buch „einen Jahrhundertroman“ (Jochen Jung); als  „Gegenstück“ zu Siegfried LenzDeutschstunde sieht es Uwe Herms (NDR).

Den Hebbel- und den Stormpreis (2010) hat Missfeldt für sein Werk erhalten, 2006 zusammen mit dem Schriftstellerkollegen Feridun Zaimoglu den Kunstpreis des Landes. Aber es gab auch zahlreiche Ehrungen über das Land hinaus wie den Wilhelm-Raabe-Preis (2002), den Italo-Svevo-Preis (2014) und den Auftenthalt in der Villa Massimo 2009.

Ein Heimatschriftsteller ist Missfeldt eben gerade nicht. Der Norden ist für ihn der geografische und kulturelle Bezugsrahmen, den er literarisch immer neu vermisst. Und er hat diese umstandslos lakonische Sprache, karg und reich zugleich. Die fließt voran wie am Abendbrotstisch, wenn alle von ihrem Tag erzählen. Und lässt im Erzählen die Welt entstehen, macht sie durchsichtig. Poetische Landschaftsschilderungen können da auf mythische Motive oder reportagehafte Passagen treffen. Und zwischen Spuren und Spiegelungen hängt in der klaren Sprache immer ein Gefühl von Märchen oder Traum, wird die Welt im Gespinst aus Geschichte und Legenden tröstlich greifbar:

Nördlich von Affegunt und südlich von  Duttebüll ist es am schönsten, in den ersten Septembertagen flimmert die Luft in der Sommersonne … Es ist ein Zögern zwischen Sommer und Herbst. Keiner stirbt, im Gegenteil: Kinder erblicken das Licht der Welt. Das Herzklopfen beginnt.

Jochen Missfeldt: Solsbüll. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2017.

Erzählen, das ist für den Schriftsteller ein Zustand glücklicher Sisyphusarbeit. Ein Unternehmen, das sich fortsetzt, ohne Ende, ohne Anfang. „Erzählen“, sagt der Schriftsteller und ehemalige Jagflieger, „das ist die einzige Chance, sich selbst zu begreifen. Die Dinge werden klarer  im sprachlichen Gestalten.“

Das gilt auch für Steilküste (2005), den Roman über zwei fahnenflüchtige Marinesoldaten im Mai 1945 in Dänemark – und das Todesurteil, das am Tag nach der deutschen Kapitulation gefällt wird. In einer Zeitungsnotiz ist er auf die wahre Geschichte der Tragödie gestoßen und hat begonnen zu recherchieren. Im Staatsarchiv in Hamburg, in der Marineschule Mürwik, im Landesarchiv Schleswig, in Svendborg. Geschichte und wie die Menschen mit ihr umgehen, hat den Schriftsteller immer interessiert.  

Das Schreiben entpuppt sich so als fortgesetzter Versuch, sich selbst auf die Spur zu kommen – was wiederum hilft, die Welt begreifbarer zu machen. „Das zu Ende zu erzählen“, sagte er kürzlich, „das hieße ja, davon Abschied nehmen.“

Auch deshalb sind manche seiner Figuren Wiedergänger, die hereinschweben wie Geister oder Schatten des Vergangenen. Und die in den verschiedenen Romanen immer wieder auftauchen – so wie Gustav Hasse, der 2001 in Gespiegelter Himmel. Titanvogeltage erscheint. Die Geschichte zweier Jagdflieger, Freunde und Konkurrenten, nach einem Flugzeugabsturz unauflöslich verbunden in Schuld und Sühne. Und seine Figuren, auch nicht die, die nur am Rand mitspielen, sind nie nur Schablone, sondern immer Menschen. Na klar, auch das Spökige von Sagen und schleswig-holsteinischem Wetter gibt es in seinen Geschichten.

„Hasse ist eine Art Freund geworden über die Jahre“, sagt Jochen Missfeldt, ein literarisches Alter ego, früh pensioniert wie er selbst. „Über ihn gewinne ich Distanz zu mir selbst.“

2017 taucht die Figur wieder auf, als in die Jahre gekommener Erzähler im Roman Sturm und Stille. Der gibt den Anstoß zum Erzählen, indem er am Beginn des Romans Rübenmus kocht für die Freunde -  so wie es Missfeldt jeden Herbst selber tut: „Mit den Steckrüben verbinden sich Kindheitsgeschichten“, sagt er, „und jeder hat eine andere auf Lager.“ Und es ist frappierend, wie erfrischend jung dieser alt gewordene Hasse über die junge Liebe von Doris Jensen erzählt, der Holzhändlertochter, die als 15-jährige Chorsängerin dem Advokaten Theodor Storm den Kopf verdrehte – und etliche Jahre später seine zweite Ehefrau wurde.

Ein Frauenporträt aus dem 19. Jahrhundert, aber auch ein etwas anderer Blick auf den Dichter und die Amour fou. Gar nicht weit weg von den Frauen, die in „Solsbüll“ den Tag wuppen, während die Männer auf dem Schlachtfeld sterben.

Auch das also folgerichtig, dass Jochen Missfeldt es war, der 2013 zum 125. Todestag Theodor Storms  eine umfassende Biografie des Husumer Dichters vorlegte, Du graue Stadt am Meer. Akribisch ist Missfeldt dafür in Storms Werk, vor allem die Novellen und Gedichte, eingetaucht und entwirrt, wie sich Leben und Schreiben verzahnten.

Eine schillernde Persönlichkeit begegnet dem Leser in Missfeldts ausgreifender Biografie. Ein Mensch voller Widersprüche und Ungereimtheiten. Eitel und einfühlsam. Familienvater und Ehebrecher. Richter und Dichter, dem das Schreiben unmittelbar aus dem (Seelen)Leben entstand. „Er ist oft ins Fettnäpfchen getreten“, sagt Missfeldt, der sich beim Schreiben selbst oft vor den Kopf gestoßen fühlte, von dem, was Storm in den Briefen verzapft hat. Aber er liebt eben auch deren „schlackenlose Prosa“, und von den Gedichten hält er viele für genial: „Garten-Spuk zum Beispiel, das ist hochmodern, das könnte so auch Gottfried Benn geschrieben haben.“

Typisch norddeutsch findet  Missfeldt den Husumer, der Platt sprach, Tee liebte und einen Hang zur Spökenkiekerei hatte. Und der mit einer gehörigen Portion Eigensinn durch die Welt ging und einer ausgeprägten Idee von Freiheit. Ein Freiheitsgedanke, wie er wohl nur zwischen Land und Meer unter dem weiten Himmel über Nordfriesland entsteht und gelebt wurde. „Die Menschen dort sind ganz anders als in Angeln“, macht  Missfeldt  den Unterschied deutlich. „Der Spruch der Friesen 'Lever duad üs Slaav' kommt nicht von ungefähr.“

Immer wieder spiegelt sich in der Biografie auch der Landstrich, der Storm wie Missfeldt prägt. Nebenbei hat Missfeldt auch eine Entdeckung gemacht: „An der Westküste gab es keine Leibeigenschaft“, erzählte er im Interview zum Erscheinen des Buchs. „Die Staatsmacht war weit weg, residierte zu Storms Kinderzeit in Kopenhagen. Und es ist spannend, sich vor diesem Hintergrund zu vergegenwärtigen, dass mit Ausnahme von Thomas Mann alle großen Dichter Schleswig-Holsteins von der Westküste kommen ...“

Missfeldt schöpft aus dem Land seiner Herkunft und netzwerkt mit den hiesigen Kollegen. Mit den Malern Klaus Fußmann und Friedel Anderson hat er die Bände Schleiland (2012) und Wiedergänger. Eine andere Geschichte von Sylt (2015) gemacht. Gegenbilder zum touristischen Klischee, in denen er kulturgeschichtliche Betrachtung mit der eigenen Erinnerung, den eigenen Gedanken verflicht. Und in denen es auch mal kauzig wird. Erschienen in der Éckernförder „Edition Eichthal“ des Verlegers Uwe Jess, der Missfeldt als seinen Lieblingsautor nennt.

5.7.2021 Ruth Bender