Tielenhemme

WISSENSWERTES

Das kleine Dorf Tielenhemme mit etwa 150 Einwohner*Innen liegt etwa auf halbem Weg zwischen Rendsburg und Heide am äußersten Rand des Kreises Dithmarschen. Seine Grenzlage an der Eider ist entscheidend für die Geschichte des Ortes: Bis ins 17. Jahrhundert lagen hier drei Inseln, die zwischen Dithmarschen und dem benachbarten Herzogtum Schleswig umstritten waren und von den Schleswigern mit einer Burg gesichert wurden. Nach der Schlacht bei Hemmingstedt (1500) übernahm Dithmarschen die Kontrolle und deichte die Inseln schließlich 1621 ein. Bis zum Bau der Eiderschleuse bei Nordfeld (1936) war das Gebiet regelmäßig den Fluten ausgesetzt – bis heute stehen viele Häuser zum Schutz vor dem Wasser auf Warften. Und auch sonst prägt die Eider bis in die Gegenwart den Ort: Yachtanlegeplätze befördern den Tourismus, und immerhin seit 1634 besteht eine Fährverbindung ins gegenübergelegene Friedrichsgraben – nach 38 Jahren der Unterbrechung wird der Fährbetrieb seit 1998 von einem Verein durchgeführt.

LITERARISCHES

Die berühmteste Bewohnerin von Tielenhemme ist auch ein knappes Jahrzehnt nach ihrem Tod unzweifelhaft die Dichterin Sarah Kirsch. Sie zog 1983 hierher, nachdem Günter Kunert sie auf eine Immobilienanzeige für das leerstehende ehemalige Schulhaus aufmerksam gemacht hatte. Der Journalist und Schriftsteller Erich Maletzke hat sie hier in den frühen 1990er Jahren aufgesucht:

Das alte Schulhaus von Tielenhemme ist nur durch die Dorfstraße und einen flachen Deich von der Eider getrennt, und meistens wird der Gastgeberin bereits an der Gartenpforte mitgeteilt, daß sie ja offensichtlich in einer Idylle lebe.

Erich Maletzke: Poeten in ländlicher Idylle. Mit Fotos von Astrid Boelter. Hamburg: Lühr & Dircks 1996, S. 75.

Die populäre Dichterin musste selbst in der abgelegenen Idylle von Tielenhemme gelegentlich mit unangekündigtem Besuch rechnen, was ihr – trotz ansonsten intensiver Kommunikation mit der Fangemeinde – nicht immer gefiel. In einer anderen Home Story heißt es:

Post beantwortete die Dichterin gerne, für unangekündigte Überraschungsbesuche von Fans hingegen hatte sie nicht viel übrig. Des Öfteren tauchten Besucher am Gartenzaun auf, die die Hausherrin einmal sogar mit den Worten: „Sarah Kirsch? Das ist meine Schwester, die ist nicht da!“ abgewimmelt haben soll.

Ansonsten stimmen die Berichte darüber überein, dass Kirsch in ihrem Dorf ausgeglichen und zufrieden gewirkt habe. In seinem Porträt betont Maletzke, dass die ehemalige Großstadtbewohnerin auch mit der Dorfgemeinschaft im Reinen gewesen sei:

Aber ob der Zuzug einer richtigen Dichterin nicht doch für Unruhe oder Neugierde im 140-Seelen-Dorf gesorgt habe? Sarah Kirsch sagt: „Ach nee, wenn der Dichter ein paar Schafe hat, dann gibt es schon Berührungspunkte […].“

Erich Maletzke: Poeten in ländlicher Idylle. Mit Fotos von Astrid Boelter. Hamburg: Lühr & Dircks 1996, S. 76.

Ähnlich zwanglos gestaltet sich die Integration von Landschaft und lyrischem Werk: Wie bei einer oft als „Naturlyrikerin“ titulierten Dichterin vielleicht nicht überraschend, ist ihr abgelegener Wohnort tief in ihre Poesie eingeschrieben. Sarah Kirschs besondere Vorliebe gilt dem Tielenhemmer Winter, den sie ohne Beschönigung und daher auch völlig frei von Kitsch beschreibt:

Die Natur hat einen Grad der Kargheit
Und Verkommenheit erreicht der durch nichts
Überboten werden kann, grau und verkrustet
Tiefgefroren liegt die Erde darnieder […]

Sarah Kirsch: Kahlfrost. In: Sämtliche Gedichte. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2005, S. 279, V. 1–4.

Nach ihrem Tod 2013 wurde die Urne mit Sarah Kirschs Asche im Garten des alten Schulhauses begraben. Ihr Sohn Moritz, der bis heute in Tielenhemme lebt, bemerkt dazu:

Für Sarah isses genau das Richtige, also es ist kein Dorotheenstädtischer Friedhof, es ist kein Ehrengrab oder irgendwie so was, sondern sie ist wirklich hier im Garten begraben, umgeben von etlichen Katzen. Emily, ihre letzte Katze, die liegt direkt daneben und ich hab dann bei dem Durchsehen der Tagebücher tatsächlich auch eine Stelle gefunden, wo sie gesagt hat: „Wenn ich doch zwischen all meinen Katzen hier begraben sein könnte“. Und das ist natürlich toll, dass das möglich war.

Angesichts der geringen Größe des Ortes ist es fast erstaunlich, dass neben Sarah Kirsch eine weitere Poetin mit Tielenhemme-Bezug zu verzeichnen ist: Die niederdeutsche Dichterin und Übersetzerin Anne-Marga Sprick wurde 1934 hier geboren und lebt heute in Bargenstedt.

IN DER UMGEBUNG

Direkt südlich von Tielenhemme befindet sich das Naturschutzgebiet „Dellstedter Birkwildmoor“, dass zu Fuß oder per Fahrrad erkundet werden kann. Um weitere literarische Orte zu erreichen, muss man etwas weitere Wege in Kauf nehmen: Rendsburg im Osten, Heide im Westen und Theodor Storms Altersruhesitz Hanerau-Hademarschen im Süden sind alle etwa 25 km entfernt.

01.12.2021 Jan Behrs