Die Kieler Liliencron-Dozentur für Lyrik

Die dem Kieler Dichter Detlev von Liliencron gewidmete Dozentur wurde 1997 zum ersten Mal verliehen. Sie ist die einzige Poetikdozentur Deutschlands, die sich ausschließlich der Lyrik widmet. Als gemeinsames Projekt des Literaturhauses Schleswig-Holstein e.V. und des Instituts für Neuere Deutsche Literatur und Medien in der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel verbindet sie literarisches und akademisches Leben.

Gegründet wurde die Dozentur von Heinrich Detering, der, kurz nachdem er 1995 auf eine Professur am Kieler Institut berufen wurde, vom Kultusministerum den Auftrag erhielt, „eine Belebung des literarischen Lebens in Kiel“ und „eine Öffnung der Universität zur literarischen Öffentlichkeit hin“ anzustoßen. #1 Für Detlev von Liliencron als Namensgeber sprach, so Detering, vieles:

Liliencron ist Kieler, und er hat sich auf diesen Herkunftsort oft berufen – nicht immer schmeichelhaft, aber immer leidenschaftlich. In einer Stadt, in der damals nach meinem Geschmack zu häufig der Satz ›Holsatia non cantat‹ zitiert wurde, verdient schon das eine nachdrückliche Erinnerung. [...] Liliencron ist eine überlebensgroße Figur auf der Schwelle zur Moderne. Gerade deren emphatischste Vertreter, von Rilke über Hofmannsthal bis zu Thomas Mann, haben ihn als Lehrer und Vorbild, manchmal sogar als eine – etwas sonderbare, aber gerade darum so liebenswerte – Vaterfigur empfunden. Und viele der Impulse aufgenommen, die er gegeben hat.

Ole Petras (Hg.): Poetische Konturen. Materialien zu 20 Jahren Kieler Liliencron-Dozentur für Lyrik. Kiel: Ludwig 2018, S. 28.

Der Ablauf der Dozentur veränderte sich über die Jahre. Anfänglich standen drei aufeinander aufbauende Poetikvorlesungen, eine Lesung sowie ein Seminar auf dem Programm. Studierende der CAU konnten mit dem Besuch aller Veranstaltungen einen Leistungsnachweis erwerben. Heute setzt sich die Dozentur aus einer werkübergreifenden Lesung‹, einem Vortrag zur Poetik und einem Podiumsgespräch zusammen und ist nicht mehr Teil des Curriculums. Wolfgang Sandfuchs, langjähriger Leiter des Literaturhauses Schleswig-Holstein, erinnert die Transition:

Ab 2002 kam zu dem universitären Programm eine Werklesung der Dozenten hinzu, ›Querbeetlesung‹ nannte Oskar Pastior das später. Dieses mehr dem Literaturhaus gemäße Format bietet das einmalige Erlebnis, einen Dichter von seinen Anfängen bis hin zu den aktuellsten Publikationen und noch unver­öffentlichten Gedichten zu verfolgen, ein gut einstündiger lyrischer Parforceritt, ausgewählt, gelesen und kommentiert vom Dichter. Das legte den Grund für das Kieler Publikum (Literaturwissenschaftler und Studierende wie interessierte Bürger), an den Folgetagen die poetologischen Selbstvergewisserungen in den Vorlesungen der unterschiedlichsten deutsch­sprachigen Dichter kennenzulernen und am letzten Tag zu diskutieren. Die Studierenden konnten ihre Eindrücke in einem Seminar, ich selbst in der persönlichen Begleitung vertiefen.

Ole Petras (Hg.): Poetische Konturen. Materialien zu 20 Jahren Kieler Liliencron-Dozentur für Lyrik. Kiel: Ludwig 2018, S. 15.

Traditionell sucht sich die DozentIn eine GesprächspartnerIn für den letzten Abend aus. So war etwa Marion Poschmann, bevor sie 2020 selbst ausgezeichnet wurde, bereits 2006 als Gesprächspartnerin von Michael Lentz im Kieler Literaturhaus zu Gast. 

Erste Preisträgerin war Doris Runge, die, so Heinrich Detering, „sowohl geographisch als auch in ihrer Poesie, dieser zauberischen Verbindung von Märchenträumen, Alpträumen und Ironie, gewissermaßen eine Nachbarin Liliencrons ist.“ (PK, 29) Es folgte Raoul Schrott, der, als er ein Jahr später mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde, Teile seiner zweiten Liliencron-Vorlesung zur Dankesrede machte. 1999 wurde der in Kiel geborene Dirk von Petersdorff Liliencron-Dozent. Er erinnert die Woche in seiner alten Heimat als gut besucht und „sehr lebendig“; ihn freute „eine solche Anerkennung durch die Universität, an der man studiert hat“. (PK, 37) Es sei, so Petersdorff weiter, „gelegentlich gut, wenn man zum Nachdenken über die eigene Grundlagen gezwungen“ werde. (PK, 38) Teile der Poetik­vorlesungen von Doris Runge, Raoul Schrott und Dirk von Petersdorff wurden von Heinrich Detering und Michael Roesler-Graichen 1999 als Sonderdruck herausgegeben, was leider keine Tradition begründete. #2 Anders als die Poetikdozenturen in Tübingen oder Frankfurt begleitet die Liliencron-Dozentur bislang keine Publikationsreihe.

Die Auswahl der PreisträgerInnen erfolgte damals wie heute von einer Jury, die sich aus VertreterInnen des Literaturhauses, der Universität und der Literaturszene Kiels zusammensetzt. Stilistische Vorgaben gibt es keine, im Gegenteil: die lange Liste der Liliencron-DozentInnen offenbart eine große Bandbreite der Genres und Schreibweisen. So findet sich die von Doris Runge eröffnete Traditionslinie des hermetischen Gedichts in der Tendenz bei Ulrike Draesner (2005) oder Brigitte Oleschinski (2007) wieder und vertreten arrivierte Avantgar­disten wie Oskar Pastior (2004), Franz Josef Czernin (2010), Elke Erb (2016) oder Michael Lentz (2006) die sich bis zur Lautpoesie auswachsende experimentelle Lyrik. F.W. Bernstein (2009) oder Arne Rautenberg (2013) ergründen Text- und Bildbe­ziehungen, während Dagmar Leupold (2002), Ilma Rakusa (2003) oder José F. A. Oliver (2019) die Lyrik zum Medium illustrer Kulturkontakte machen.

Aber es gibt auch ›klassische‹ Genres wie die von Harald Hartung (2001) oder Marion Poschmann (2020) verfasste Naturlyrik, die Erinnerungs­poesie von Dirk von Petersdorff (1999), Heinrich Detering (2012) oder Monika Rinck (2015), Erzählgedichte von Thomas Rosenlöcher (2000), Marcel Beyer (2008) oder Raoul Schrott (1998) und schließlich AutorIn­nen, die Schreibweisen der Populärkultur bedienen und zum Teil in politische Dimen­sionen vorstoßen wie etwa Nora Gomringer (2011), PeterLicht (2018) oder Max Czollek (2021).

Für die Liliencron-Dozentur gilt insofern gleichermaßen, was der 2013 ausgezeichnete und kurz darauf in die Liliencron-Jury berufene Dichter Arne Rautenberg über sein Schreib­programm sagt:

Ich bin ein Meister des Zulassenkönnens. Was kommt, das kommt. Ich habe kein Programm, sondern gehe dahin, wo meine Ideen mich hinhaben wollen. Das ist dann auch für mich beim Schreiben spannend. Weil ich nicht weiß, was passiert. Nicht selten bin ich selbst über mich überrascht, von einem Ausdruck, der aus meiner Dunkelheit, meiner Tiefe kommt. Und es ist auch ein tröstlicher Gedanke, dass all die Gedichte, die ich in den letzten dreißig Jahren geschrieben habe, so etwas wie mein emanzipiertes Tagebuch sind.

Ole Petras (Hg.): Poetische Konturen. Materialien zu 20 Jahren Kieler Liliencron-Dozentur für Lyrik. Kiel: Ludwig 2018, S. 48.

Auch Dirk von Petersdorff schätzt die Vielfalt der lyrischen Zugänge:

Die Dozentur spiegelt die Entwicklung der jüngeren Lyrik, die vielstimmig ist. Diese Vielstimmigkeit empfinde ich grundsätzlich als befreiend. Dann gibt es Positionen, die einem selbst näher stehen, und andere, mit denen man sich auseinandersetzt, und es gibt Autoren, deren Weg man beobachtet, mit Respekt oder Bewunderung. PeterLicht scheint mir zu den Autoren zu gehören, die von außen in die Lyrik kommen, aus dem Feld des Pop, und von dort bringt er eine sehr genaue Gegenwartsbeobachtung mit. Diese Autoren sind weniger selektiv, in ihrer Weltwahrnehmung und ihrer Sprachbehandlung, und das finde ich reizvoll.

Ole Petras (Hg.): Poetische Konturen. Materialien zu 20 Jahren Kieler Liliencron-Dozentur für Lyrik. Kiel: Ludwig 2018, S. 42.

Zum 20. Jubiläum haben Studierende des Instituts für Neuere Deutsche Literatur und Medien eine Sonderausstellung erarbeitet, die versuchte, die Poetischen Konturen der derart vielgestaltigen Dozentur nachzuzeichnen. #3 Im Zentrum stand dabei die Vermittlung lyrischer Texte in Selbst- und Fremdkommentaren sowie persönlichen Lesezeichen. Die Ausstellung begleitete die Dozentur von PeterLicht und wurde im Rahmen eines Podiums­gesprächs ehemaliger Preisträger eröffnet. „Es gibt“, so konstatiert Ruth Bender von den Kieler Nachrichten in der begleitenden Publikation,

eine Sehnsucht, dem Dichter hinter die Stirn zu schauen. Zu erfahren, wo er seine Ideen findet, und wie diese zu Worten, Zeilen, Versen werden. Gedichte haben ja immer auch ein Rätsel. Es ist also aufregend, wenn Dichter Türen öffnen hinter die Texte.

Ole Petras (Hg.): Poetische Konturen. Materialien zu 20 Jahren Kieler Liliencron-Dozentur für Lyrik. Kiel: Ludwig 2018, S. 21.

Die Liliencron-Dozentur ist in diesem Sinne immer einzigartig: jede Dozentur für sich, und in der Gesamtschau der ausgezeichneten DichterInnen. „Keine Literaturform für Weltflüchtige“, so Ruth Bender weiter, „sondern Lebenselixier“.

14.11.2021 Ole Petras

ANMERKUNGEN

1 Ole Petras (Hg.): Poetische Konturen. Materialien zu 20 Jahren Kieler Liliencron-Dozentur für Lyrik. Kiel: Ludwig 2018, S. 27. Im Folgenden wird dieser Band mit der Sigle PK sowie der Seitenzahl zitiert.

2 Heinrich Detering, Michael Roesler-Graichen (Hg.): Die Kieler Liliencron-Dozentur für Lyrik 1997-1999. Mit Texten von Doris Runge, Raoul Schrott und Dirk von Petersdorff. Sonderdruck: Kiel 1999.

3 Petras, Poetische Konturen (wie Anm. 1).