Heinrich Detering

Detering, Heinrich

Dichter, Literaturwissenschaftler und Experte für das literarische Schleswig-Holstein

Geboren in Neumünster am 01. November 1959

Heinrich Detering ist vielfältig wie kaum ein anderer mit dem Literaturland Schleswig-Holstein verbunden: Als im Land geborener Autor, als langjähriger Professor in Kiel, aber auch als jemand, der sich spezifisch für die schleswig-holsteinische Literatur interessiert und sich mit etlichen ihrer Dichter und Dichtungen wissenschaftlich und literarisch auseinandergesetzt hat. Geboren wurde er 1959 in Neumünster. Nachdem er in Lemgo das Abitur abgelegt und in Göttingen, Heidelberg und Odense studiert hatte, promovierte er ebenfalls in Göttingen. 1993 folgte die Habilitation, und nach einer Vertretungsprofessur in München kehrte er 1995 nach Schleswig-Holstein zurück, um an der CAU Kiel Professor für Neuere deutsche Literatur und Neuere skandinavische Literaturen zu werden. Detering blieb bis 2005 in Kiel und ging dann nach Göttingen, blieb aber der hiesigen Literaturszene erhalten: Von 2003 bis 2015 war er Präsident der Theodor-Storm-Gesellschaft, 2004 Gründungsmitglied der Wilhelm-Lehmann-Gesellschaft und 2006-2012 Vizepräsident der Thomas-Mann-Gesellschaft Sitz Lübeck. 2007 erhielt er den Wissenschaftspreis der Landeshauptstadt Kiel und im Wintersemester 2012/13 die Liliencron-Poetikdozentur der Universität Kiel. Besonders verbunden ist er auch unserem nördlichen Nachbarland: 2008 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Aarhus, 2012 den Hans-Christian-Andersen-Preis, und 2013 wurde er aufgrund seiner Verdienste um die kulturelle Vermittlung zwischen Deutschland und Dänemark zum Ritter des Dannebrog-Ordens ernannt. Ein Resultat seiner Bemühungen um solche Vermittlung ist die „kleine dänisch-deutsche Kulturgeschichte Kiels“ Andersen und andere, die 2005 erschien. #1 Bereits vier Jahre zuvor veröffentlichte Detering den Band Herkunftsorte, der sich mit den Werken von Theodor Storm, Friedrich Hebbel, Klaus Groth sowie Thomas und Heinrich Mann auseinandersetzte und damit explizit Schleswig-Holstein als literarischen Raum in den Blick nahm. Von 2012 bis 2014 kuratierte er im Wachholtz Verlag die Reihe Landessprachen, die in vier Bänden den literarischen Reichtum Schleswig-Holsteins präsentierte: Die von Detering und Peter Nicolaisen herausgegebene Anthologie Stimmenvielfalt (2012) gab ein umfassendes Bild der vielsprachigen Lyrik des Landes, und der Nachfolgeband Klangraum (2013) setzte dies für die Prosa fort. Im Band Die fünffache Seereise (2014) stellen Detering und Günter Grass den großen dänischen Dichter Hans Christian Andersen spezifisch im schleswig-holsteinischen Kontext vor, und der letzte Band Hermann Bang. Aus der Mappe widmet sich erneut einer literarischen Kernfigur aus dem Nachbarland.

In einem Aufsatz über Wilhelm Lehmann blickt Heinrich Detering auf seine eigene Kindheit zurück und identifiziert eine gängige Art des Bücherlesens, die ihm schon damals missfiel:

Vor der Lektüre des ‚Lederstrumpf‘ wurden wir gewarnt. Es gebe da furchtbar lange Landschaftsschilderungen, die müsse man überspringen und sich möglichst zielstrebig der action zuwenden […]. Mir ging es schon mit dem ‚Lederstrumpf‘ anders. Das einzig wirklich Fesselnde an Coopers Prosa […] waren diese Ausblicke auf unendlich weite Waldlandschaften, über die meeresartigen Buchten der Großen Seen […].

Heinrich Detering: Der verbrecherische Hahnenfuß. Wilhelm Lehmanns ‚Bukolisches Tagebuch‘ zwischen Romantik und Avantgarde. In: Merlinszeit. Wilhelm Lehmann braucht ein Haus in Eckernförde. Hrsg. v. Uwe Pörksen. Göttingen: Wallstein 2010, S. 15.

Was hier natürlich als Verteidigung des großen Naturdichters Lehmann gemeint ist, kann durchaus auch als Deterings eigenes poetisches Programm gelesen werden: Wie Lehmann stellt er in seiner Lyrik von Anfang an die Natur in den Mittelpunkt, und die für Lehmann so wichtige Selbstdarstellung als einsamer, mit der Landschaft verschmelzender Wanderer ist auch für Detering eine (wenn auch nicht die einzige) poetische Option, so wie hier im frühen Gedicht Mitteilung aus Drawehn:

Ich bin mit den Wiesen gut Freund, ich entziffere die
Sandwege von hier bis zum Ufer, bis zu den Brücken, bis
dorthin, wo die Nachricht abbricht im Taubengrau. Linkes
Ufer, rechtes Ufer: Regengrün, Windstille.

Heinrich Detering: Mitteilung aus Drawehn. In: Zeichensprache. Frühe Gedichte 1977–1987. Aachen: Rimbaud 2016, S. 55, V. 8–11.

Weil eine solche Poesie notwendigerweise an konkrete Orte gebunden ist, liegt es nahe, dass Schleswig-Holstein und seine Landschaften in Deterings Dichtung eine große Rolle spielen. Das Dorf Wrist in der Nähe von Kellinghusen, den meisten nur als Bahnhaltepunkt auf der Strecke von Hamburg nach Neumünster bekannt, leiht seinem 2009 erschienenen Gedichtband den Namen, und nicht nur im Titelgedicht beschwört der Dichter das Ephemere, scheinbar Unauffällige, das sich der menschlichen Aufmerksamkeit beinahe entzieht – ganz sicher ist beispielsweise am Eidersperrwerk keine überflüssige „action“ à la Lederstrumpf zu erwarten:

es geht sehr langsam hier mit den Flüssen
in weiten Mäandern durch Moorwiesen
das dunkle Wasser spiegelt den Himmel

wenig Unruhe manchmal der Flügel-
schlag eines Kiebitz der die Fläche leicht
ritzt und ein Wind der sie flüchtig riffelt

Heinrich Detering: Eidersperrwerk. In: Wrist. Gedichte. Göttingen: Wallstein 2009, S. 20, V. 4–9.

Man läge allerdings falsch, wenn man die Naturverbundenheit solcher Gedichte mit einer verbiesterten Zivilisationsfeindlichkeit in Verbindung bringen würde – ein weltabgewandter Eremit ist Detering in seinen Gedichten sicher nicht. Ganz im Gegenteil findet auch die städtische Welt einen Platz in seiner Lyrik, gelegentlich mit einem gewissen Augenzwinkern:

das Autohaus Elmshorn ist abgerissen
der Winter ist vorbei das Wasser steigt
ich lasse mir, was kommt, im Ungewissen
Toyota geht der Tag hat sich geneigt

Heinrich Detering: Mitte März. In: Wrist. Gedichte. Göttingen: Wallstein 2009, S. 69, V. 1–4.

So wie in diesem Gedicht ein Kirchenlied effektvoll zitiert wird, spielt generell die literarische Überlieferung bei Detering eine wichtige Rolle, was ja für einen Literaturprofessor auch nicht überraschend ist. Entsprechend seiner wissenschaftlichen Vorlieben findet die Dichtung aus dem Norden auch auf diesem Weg in seine Poesie. So beschäftigt er sich beispielsweise mit Friedrich Hebbels Kindheit in Wesselburen, indem er die merkwürdige Tatsache herausstellt, dass die Nordsee für den so dicht an ihr geborenen Dichter keine Rolle spielt:

vom Wohnhaus von der Straße der Kleinstadt
erzählt Hebbels Buch von allem nur nicht
vom Meer da war er nie das kommt nicht vor
es gibt kein Meer in Hebbels Kindheitsbuch
es gibt in Hebbels Kindheit kein Meer

Heinrich Detering: Wesselburen. In: Wrist. Gedichte. Göttingen: Wallstein 2009, S. 9, V. 6–10.

Theodor Storm wird im bereits erwähnten Aufsatz zu Lehmann als „Zauberer“ beschrieben, dessen Brillanz bei Naturschilderungen jedoch gelegentlich vom „unfassbar banale[n] Zerstörungswerk“ des historistischen Plots unterwandert werde. #2 Auch in Deterings eigener Lyrik haben der Husumer und andere schleswig-holsteinische Größen Spuren hinterlassen: Im Gedichtband Untertauchen von 2019 findet sich ein Gedicht namens Geh hinein, das nicht nur eine lakonische Auseinandersetzung mit dem Tod ist, sondern auch auf Storms bekanntes Gedicht Geh nicht hinein von 1879 antwortet. Und in dem Gedicht Besuch bei Hanno werden nicht nur Hanno Buddenbrook und durch ihn Thomas Mann in Lübeck aufgesucht, sondern ein weiterer Großer der schleswig-holsteinischen Literatur, der das Land früh verließ, schaut um die Ecke:

hinter der Türe
im dunklen Winkel war das
nicht Erich Mühsam?

Heinrich Detering: Besuch bei Hanno. In: Wundertiere. Gedichte. Göttingen: Wallstein 2015, S. 41, V. 10–12.

Angesichts der eingangs beschriebenen besonders intensiven Verbindungen Heinrich Deterings zu Schleswig-Holstein kann dieser Artikel nicht die Gesamtheit seines vielfältigen Schaffens abbilden. Nicht ganz vergessen werden dürfen aber zwei Aspekte, die besonders in jüngerer Zeit viel Beachtung gefunden haben: Seit vielen Jahren beschäftigt sich er mit dem Werk Bob Dylans und hat dessen Texte sowohl übersetzt #3 als auch interpretiert #4 bzw. vorgestellt – seine Biografie im Reclam-Verlag erscheint mittlerweile in der 6. Auflage. #5 Schon lange vor Dylans Literatur-Nobelpreis hat Detering sich damit (aus einer dezidierten Fan-Perspektive) dafür eingesetzt, das literarische Genie des großen Musikers ernst zu nehmen. In den letzten Jahren hat er sich außerdem einem eher unliterarischen Thema zugewandt: In einem vieldiskutierten Buch hat er sich 2018 mit der „Rhetorik der parlamentarischen Rechten“ auseinandergesetzt #6 und sich damit leidenschaftlich in die politische Debatte der Gegenwart eingemischt.

30.4.2021Jan Behrs

ANMERKUNGEN

1 Heinrich Detering: Andersen und andere. Kleine dänisch-deutsche Kulturgeschichte Kiels. Heide: Boyens 2005.

2 Heinrich Detering: Der verbrecherische Hahnenfuß. Wilhelm Lehmanns ‚Bukolisches Tagebuch‘ zwischen Romantik und Avantgarde. In: Merlinszeit. Wilhelm Lehmann braucht ein Haus in Eckernförde. Hrsg. v. Uwe Pörksen. Göttingen: Wallstein 2010, S. 17.

3 Heinrich Detering (Hrsg.): Best of Lyrics/Bob Dylan. Hamburg: Hoffmann und Campe 2017.

4 Heinrich Detering: Die Stimmen aus der Unterwelt. Bob Dylans Mysterienspiele. München: C. H. Beck 2016.

5 Heinrich Detering: Bob Dylan. Ditzingen: Reclam 2016.

6 Heinrich Detering: Was heißt hier „wir“? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten. Ditzingen: Reclam 2018.